Mebersicht der politischen Entwichelnus des Jahres 1892. 337
gierung; in der innigen Vereinigung des preußischen und deutschen
Gouvernements beruht ja die deutsche Reichsverfassung, und diese
Vereinigung wurde repräsentiert durch die Identität des Reichs-
kanzlers und des Ministerpräsidenten. Man mußte sich darin finden,
daß die Einheit der Regierungsgedanken, wenn auch nicht mehr in
einer leitenden Persönlichkeit repräsentiert, nunmehr durch kollegiales
Zusammenwirken unter starker persönlicher Einwirkung des Mo-
narchen erhalten bleiben werde. Das Verhältnis der Personen zu
einander ist bei derartigen Funktionen wichtiger als die Organi-
sation, und diese kann sich ebensowohl nach jenen richten, wie um-
gekehrt. Nichts war thörichter und nichts ist auch mehr durch den
Erfolg widerlegt worden, als der seiner Zeit so oft erhobene Vor-
wurf gegen den Fürsten Bismarck, daß er alle Institutionen
des Reichs auf seine Person zuschneide. Es war bis jetzt genau in
den vom Fürsten Bismarck geschaffenen Formen weiter regiert
worden und nun, wo sie geändert werden sollten, wurde diese Aende-
rung wieder für ein großes Unglück erklärt. Als Minister des
Auswärtigen blieb Graf Caprivi Mitglied des preußischen Staats-
ministeriums. Graf Eulenburg begnügte sich zunächst mit dem
sehr kleinen Ressort des Ministerpräsidiums, als aber nach einem
halben Jahr (9. August) der Minister des Innern, Herrfurth, in
der Frage der Kommunalsteuerreform mit seinen Kollegen in Diffe-
renzen geriet und darüber ausschied, übernahm Graf Eulenburg
dieses Fachministerium. Das Kultusministerium ging aus den Händen
des Grafen Zedlitz in diejenigen des Herrn Bosse über, der früher
im Reichsamt des Innern in hervorragender Weise an der Aus-
arbeitung der sozialpolitischen Gesetze beteiligt und seit kurzem
Staatssekretär im Reichsjustizamt war, wo er wesentlich die Aus-
arbeitung des bürgerlichen Gesetzbuches zu leiten hatte. In den
politischen Grundanschauungen des preußischen Staatsministeriums
trat mit diesem Personenwechsel keine Aenderung ein.
An die Krisis des Volksschulgesetzes schließt sich am besten Tie Par-
die Entwickelung der Parteien, wenn sie auch erst am Schluß des
Jahres zu einem positiven Ereignis führte. Am schwersten betroffen
durch die Zurückziehung der Vorlage war die konservative Partei.
Dem Zentrum war zwar eigentlich die Frucht zugedacht und ent-
Europ. Geschichtskalender. Bd. XXXIII.