Mebersicht der politischen Entwichelung des Jahres 1892. 339
und verteidigte das persönliche Eingreifen des Königs. Der Kultus-
minister Graf Zedlitz habe versucht, eine Politik zu treiben, die
mit dem ausgesprochenen und ihm bekannten Willen des Königs
in Widerspruch gewesen sei. Das habe sich die Monarchie nicht
gefallen lassen können. In der konservativen Partei seien demagogische
Elemente, die nur der deutsch-sozialen d. h. der antisemitischen Be-
wegung die Wege ebneten. Das sei nicht mehr Konservatismus;
bei solchem Zwiespalt der Bestrebungen sei eine reinliche Scheidung
der Geister vorzuziehen. Mit diesem Vorstoß aber hatte Herr
von Helldorff seine Kräfte überschätzt. Die Erregung in der kon-
servativen Partei über die erlittene Niederlage war zu groß. Die
Kreuzzeitungs-Partei benutzte die Gelegenheit ihrerseits, den Gegner
niederzuwerfen. Der alte Herr von Kleist-Retzow übernahm die
Führung und setzte durch, daß Herr von Helldorff zunächst in einer
überaus brüsken Weise von der konservativen Herrenhaus-Fraktion
erxkludiert wurde. Dann nahm auch die konservative Fraktion des
Abgeordnetenhauses fast einstimmig eine Resolution gegen ihn an.
Viele konservative Vereine im Lande schlossen sich an. Der aus
elf Mitgliedern bestehende Parteiausschuß trat zusammen und wählte
an Stelle des Herrn von Helldorff Herrn von Manteuffel zum Vor-
sitzenden. An die Personenfrage schloß sich die Taktik. Schon längere
Zeit war vom Kreuzzeitungs-Flügel eine Revision des konservativen
Programms gefordert worden und zwar wesentlich die Aufnahme
des Antisemitismus. Unverkennbar hatte die antisemitische Stim-
mung im deutschen Volke seit einem Jahrzehnt fortwährend an
Stärke zugenommen; auch in weiten Kreisen, die öffentlich und
formell mit dem Antisemitismus nichts zu thun haben wollten,
war er doch sehr lebendig. Der freifinnige Abgeordnete Barth in
der „Nation“ drückte das Verhältnis sehr drastisch und richtig
einmal so aus: der Antisemitismus in Glacéhandschuhen sei der
eigentliche Feind. Diese starke populäre Bewegung also hofften
die Konservativen vor ihren Wagen zu spannen. So fern es auf
den ersten Anblick zu liegen scheint, so hängt es doch mit dem
Scheitern des Schulgesetzes eng zusammen. Eine konservative Partei
in Preußen ist ihrer Natur nach gouvernemental. Wie sie ver-
langt, daß die Regierung wesentlich nach ihren Ideen geführt werde,
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