340 Uebersicht der politischen Eutwichelung des Jahres 1892.
so ist sie auch durch ihre Prinzipien verpflichtet, der Regierung
anzuhängen und fie zu unterstützen. Die Zurückziehung des Volks-
schulgesetzes hatte eine tiefe Kluft zwischen ihr und der Regierung
geschaffen. Worauf sollte die Partei sich berufen, wenn sie vor die
Wähler trat, um sie um ihre Stimmen zu bitten? Der populärste
Zug der Partei ist ihr Royalismus: sobald nun die Rede auf das
Volksschulgesetz kam, mußten sie entweder mit ihrem Royalismus
oder ihrer Kirchlichkeit in Verlegenheit geraten. Es kam darauf
an, dem Parteicharakter ein anderweites populäres Element einzu-
fügen und dazu wurde der Antisemitismus ausersehen. Lange
ging der Kampf darüber innerhalb der Partei hin und her — denn
was ist und will der Antisemitismus? Richtet er sich gegen die jüdische
Religion oder gegen die Rasse: Auch gegen die getauften Juden!?
Auch gegen die Halbjuden? Was soll denn, sei es mit diesen, sei
es mit jenen, sei es mit allen geschehen? Eine bloße Tendenz ohne
konkrete Vorschläge kann wohl das Programm einer revolutionären,
aber nicht einer konservativen Partei bilden. So versuchte man
eine Formulierung nach der andern und der Parteiausschuß legte
endlich dem Parteitage eine vor, um zu erleben, daß dieser sie
umwarf (8. Dezember). Die Vorbehalte, die die Partei auch ferner
vom Antisemitismus scheiden und den alten Charakter bewahren
sollten, wurden ausdrücklich gestrichen, und damit hat die deutsch-
konservative Partei in Deutschland eine völlig neue Bahn betreten,
von der die Zukunft lehren muß, wohin sie führt.
Die Wendung zum Antisemitismus in der konservativen
Partei wurde entschieden nicht durch die parlamentarischen Führer,
auch nicht durch das Gros der Abgeordneten in der Partei, sondern
durch die Bewegung von unten her. Wenige Tage vor dem kon-
servativen Parteitag hatte eine Reichstagsnachwahl die ungeheure
Gewalt der antisemitischen Stimmung im Volke vor aller Augen
gestellt. Der Rektor einer Berliner Bürgerschule Ahlwardt wurde
im Kreise Arnswalde-Friedeberg in der Neumark mit 11.200 gegen
3300 Stimmen in den Reichstag gewählt. Herr Ahlwardt ist ein
Mann, der sich eines wenig günstigen Leumundes erfreut. In
mehreren Broschüren war er gegen die jüdische Korruption und das
Judentum überhaupt zu Felde gezogen und hatte thatsächlich einige