348 Nebersicht der pelitischen Entwickelung des Jahres 1892.
die augenblickliche wirtschaftliche Lage und das Machtverhältnis
zwischen Arbeiterschaft und Unternehmertum zuließ? Radikalismus
oder Opportunismus — diese Frage, die jeden Punkt der Beratung
auf diesem Parteitage offen oder verhüllt beherrschte, stand auch
hier zur Entscheidung. Und so sehr auch einzelne, aber nur ein-
zelne Heißsporne unter den Delegierten nach dem Radikalismus
hindrängten, so scharf der Wiener Delegierte Dr. Adler die oppor-
tunistischen Neigungen des Parteitages als einen Rückzug der Partei
charakterisierte, so nachdrücklich man auf den Eindruck hinwies, den
ein opportunistischer Beschluß auf die Parteigenossen der anderen
Nationen machen müsse — nachdem der Referent seine Gründe ent-
wickelt, nachdem Bebel gesprochen und Vollmar mit wuchtigen
Worten den Eindruck der Rede Bebels noch verstärkt, war die Sache
zu Gunsten der Resolution entschieden, die nun in namentlicher
Abstimmung mit überwältigender Majorität (zu Gunsten einer
bloßen Abendfeier) angenommen wurde.
Den Höhepunkt des gesamten Parteitags sah man in den
Verhandlungen über den Staatssozialismus. Das Thema war erst
nachträglich auf die Tagesordnung gesetzt worden; Liebknecht und
Vollmar als Referent und Korreferent sollten vor aller Oeffentlich-
keit ihre scheinbar tiefgehenden Differenzen austragen. Man er-
wartete gespannt die Entwickelung, viele etwas angstvoll, selbst noch
unsicher, für wen sie sich würden entscheiden müssen. Da wurde eine
Resolution mit der gemeinsamen Unterschrift Liebknechts und Voll-
mars über den Staatssozialismus verteilt — und mit einem
Schlage war alle Spannung weg. Denn damit war in der That
die Sache vorläufig entschieden und der innere Gegensatz von neuem
äußerlich überbrückt. So sprach denn Liebknecht, matt, so wie er
den ganzen Parteitag über matt, fast gebrochen auf seinem Stuhle
saß; es war eine seiner bekannten theoretischen, politisch-sozialen
Reden mit dem eigentümlichen aus der vierziger und sechziger Zeit
herstammenden bombastischen Stil. Dann sprach Vollmar mehr
persönlich, manchmal wohl absichtlich etwas dunkel, den Gegensatz
zwischen sich und Liebknecht klug verschleiernd, aber dabei wuchtig
wie immer und mit mindestens demselben Erfolge wie Liebknecht.
Auch der darauf folgenden Debatte fehlte es an irgendwelchen