Aebersicht der politisczen Entwickelung des Jahres 1892. 349
großen Momenten und Gesichtspunkten. Die einen sprachen mehr
für, die anderen mehr gegen Vollmar, die dritten überhaupt nicht
von ihm. Am Schluß konstatierte Vollmar mit Recht, daß die De-
batte die Sache keineswegs gefördert habe. Die Delegierten waren
allgemein froh, daß alles so abgelaufen, und Bebel verkündete aller
Welt, daß nun alles wieder gut sei. Wer tiefer sieht, ist jedenfalls
anderer Anficht. Zwar darf man nicht meinen, daß der Gegensatz
zwischen Liebknecht und Vollmar bloß persönlicher Natur sei. Wir
selbst haben gesehen, wie ernstlich und ehrlich sich beide bemühten,
persönlich freundlich mit einander zu verkehren. Der Gegensatz
liegt vielmehr tiefer, ist sachlicher Natur, und die persönliche Ent-
fernung nur die Konsequenz davon. Nach unserer Meinung ist das
bisherige sozialdemokratische Prinzip selbst die Ursache davon. Es
ist zwiespältig, trägt zwei Seelen in der Brust, eine revolutionäre
und eine evolutionäre, wenn man so sagen darf. Jene ist mehr
politisch-demokratischen Charakters und hat ihre Wurzeln in den
Revolutionsidealen der alten Achtundvierziger. Die andere ist wirt-
schaftlich-philosophischen Charakters; ihre Wurzeln find das Hegelsche
und das Marxsche System. Beide, mit der Aufklärung der Sech-
ziger Jahre durchtränkt, waren bisher in der sozialdemokratischen
Lehre scheinbar, aber nur scheinbar, zu einem organischen Ganzen
zusammengeschweißt. Thatsächlich wurde diese einzelnen sich wider-
sprechenden Elemente nur in den hierin so unklaren und doch kraft-
vollen Persönlichkeiten der Führer, namentlich Liebknechts zusammen-
gehalten. Dabei ging wohl Liebknechts innerste Neigung vorwiegend
nach der politisch-radikalen Seite: er hoffte und hofft noch heute,
die neue Wirtschaftsordnung und Gesellschaft in erster Linie durch
eine politische Umwälzung zu erreichen: dazu ist er viel zu sehr der
Revolutionär von 1848 geblieben. Aber nun ging das in dem
letzten Jahrzehnt mit einer Revolution nicht; gethan mußte außer
der Agitation auch etwas werden; so griff man einstweilen zu den
einzelnen praktischen Arbeiten, zu der Beteiligung an dem öffent-
lichen, gewerblichen und parlamentarischen Leben der Gegenwart.
Und man entschuldigte und deckte diese Handlung mit dem Satze,
der folgerichtig den wirtschaftsphilosophischen Gedankengängen von
Marx zu Grunde liegt, das „wir uns allmählich in den Zukunfts-