2 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 10. - 11.)
§ 5. Bis zum Erlaß des Wahlgesetzes werden die Bestimmungen
der Artikel 71 und 115 der Verfassungsurkunde, soweit sie den vorstehenden
Bestimmungen entgegenstehen, außer Kraft gesetzt.
§ 6. Das gegenwärtige Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündi-
gung in Kraft, jedoch erhalten § 2 und für die Wahlen zum Hause der
Abgeordneten die Vorschrift des § 1, wonach bei der Bildung der Urwähler-
abteilungen die direkten Gemeinde-, Kreis-, Bezirks- und Provinzialsteuern
in Anrechnung zu kommen haben, erst mit dem Inkrafttreten des Gesetzes
wegen Aufhebung direkter Staatssteuern Geltung.
10. Januar. In Sigmaringen findet die Hochzeit des Prin zen-
Thronfolgers von Rumänien mit der Prinzessin Marie von
Edinburg statt. Kaiser Wilhelm und der König von Rumänien
sind dazu anwesend.
11. Januar. Der Kaiser trifft unerwartet in Straßburg
ein, läßt Alarm schlagen und hält Truppenschau auf dem Polygon.
11. Januar. (Reichstag.) Die Kommission für die Militär-
Vorlage beginnt ihre Beratungen. Graf Caprivi eröffnet sie
und sagt nach der „Nat.-Ztg.“:
Er rechne auf den Takt und die Vaterlandsliebe der Anwesenden bei
etwaiger Verwendung seiner Mitteilungen und wolle bis an die Grenze des
Möglichen in seinen Eröffnungen gehen. Der Redner beleuchtet die allge-
meine politische Lage in ähnlicher Weise, wie es im Plenum geschehen. In
Frankreich gähre es; ein prominenter Staatsmann sei zwar im Augenblick
nicht da, doch das Entstehen einer Diktatur darum nicht ausgeschlossen. Auch
er halte, wie sein Vorgänger, die Erhaltung der Republik in Frankreich für
das Erwünschteste. Seit dem letzten Kriege sei die Bevölkerungsziffer Frank-
reichs wieder im Wachsen. Auch Rußland sei im Aufsteigen und auf ab-
sehbare Zeit sei es der mächtigste Militärstaat Europas. Eine Feindselig-
keit bestehe weder zwischen den Monarchen, noch zwischen den Regierungen
und den Staaten, wohl aber zwischen der öffentlichen Meinung. Der Reichs-
kanzler erörtert sodann das Streben Rußlands nach Konstantinopel und die
Möglichkeit und Chancen eines Angriffs der Russen gegen die Türkei. Man
sage neuerdings, der Weg über den Balkan gehe nicht mehr allein über
Wien, sondern auch durch das Brandenburger Thor. Bei der Freundschaft
Frankreichs mit Rußland müsse man auf einen Krieg nach zwei Fronten
gefaßt sein. Nach Beleuchtung des Verhältnisses zwischen Rußland und
Frankreich hebt Graf Caprivi hervor: Die Richtschnur unsrer äußeren Politik
sei und bleibe die Erhaltung der vollen Großmachtstellung Oesterreich-Ungarns.
Es wäre durchaus falsch, um augenblicklicher Vorteile willen uns Rußland
gegen Oesterreich zu nähern. Höchst wahrscheinlich bestehen militärische Ab-
machungen — für Land und Wasser — zwischen Frankreich und Rußland.
Auch Dänemark sei zu berücksichtigen, wenn auch dessen König unser guter
Freund ist. Die Erneuerung des Dreibundes nach dessen Ablauf ist aller-
dings zu hoffen, aber doch auch nicht absolut sicher. Das Bündnis mit
Italien habe den Hauptzweck, die Südgrenze Oesterreichs gegen Frankreich
zu sichern. An der Tüchtigkeit der österreichischen wie der italienischen Armee
sei nicht zu zweifeln, wenn auch vielleicht noch organisatorische Schwächen be-
stehen. Unsre eigene organisatorische Schwäche kennen wir am besten, so
bezüglich der so wichtigen Reservedivisionen, die nicht so leistungsfähig sein
dürften, wie die französischen und russischen mit jüngerem Material. Be-