Frankreich. (Mai 20.—21.) 233
20. Mai. Die Kammer bewilligt die gerichtliche Verfolgung
des sozialistischen Deputierten Baudin, der am 1. Mai bei Auf-
reizung der Volksmenge verhaftet ist.
21. Mai. (Toulouse.) Der Ministerpräsident Dupuy hält
eine Rede, in der er sagt:
„Alle Welt will heute Republikaner sein; man mußte weit suchen,
um diese Seltsamkeit: einen Monarchisten, zu entdecken. Manche sagen, daß
dieser Einklang daher kommt, weil der Papst gesprochen hat. Es wird aber
nicht genügen, den französischen Wählern zu sagen: Roma locuta est, da-
mit sie darauf antworten: Amen. Gewiß, Ratschläge, die, von einer hohen
Absicht der Friedenstiftung, der Versöhnung, der Menschlichkeit eingegeben,
von Rom erteilt werden, sind keinem Denkenden gleichgültig, und es wäre
Wahnsinn, die Ueberredungskraft zu verkennen, welche der Macht eigen ist,
die ein Staatsmann „die unantastbare Gewalt“ genannt hat. Aber da liegt
die Frage nicht. Wir haben die Republik gegründet, wir haben sie gegen
Wind und Wetter aufrecht gehalten; wir haben ihr bezeichnende und unzer-
störbare Gesetze als Grundlage untergelegt. Was denken unsere neuen Re-
publikaner von diesen Gesetzen, was von der Republik selbst? Sie nennen
sich die Bekehrten; ich nenne sie die Entmutigten... Es mag sein, daß sie
sich der Republik fügen. Aber werden sie sie verteidigen? Sie sind Führer
ohne Soldaten. Ihre Truppen sind im ungeheuren Heer der Republikaner
aufgegangen. Das ist das Geheimnis ihrer Bekehrung und darum kann
zwischen ihnen und uns von Bedingungen keine Rede sein. Die Republik
ist niemandes Eigentum, das gebe ich zu. Aber sie weiß die Ihrigen zu
erkennen und macht bei den Wahlen einigen Unterschied zwischen denen, die
den Sturm gegen sie am 24. und 16. Mai in den Jahren 1885 und 1889
angeführt haben, und jenen, die sie immer treu und heiß geliebt und ihr
gedient haben. Ich habe von den Wahlen gesprochen. Das gegenwärtige
Kabinett wird ihnen vorstehen. Daran zweifelt kein ernster Geist in diesem
Lande, der nicht an Personen, sondern an Gedanken hängt. Unsere Nation,
Gott sei Dank, hat keine Angst vor neuen Männern und anders wie Ca-
hpso weiß sie sich über Ulysses Abreise zu trösten. Ich sage, wir werden
den Wahlen vorstehen; ich sage nicht: wir werden sie „machen“; diese Aus-
drucksweise ist übelwollend und anstößig; sie erweckt die Vorstellung von
ch weiß nicht welchen Kniffen und Schachereien, die eines freien Landes
unwürdig sind. Man „macht“ keine Wahlen. Man bereitet sie durch eine
wachsame und ausfgeklärte Verwaltung vor, die für alle wohlwollend ist,
aber auch alle Bürger, wer sie auch seien, zur Achtung vor dem Gesetze
nötigt... Die nächste Kammer wird eine sichere republikanische Mehrheit
enthalten. Ich kann auch sagen, was ihr Programm sein wird. Wir sind
an einem Zeitpunkt angelangt, da man Politik treiben kann, ohne von einer
nahen Gefahr hypnotisiert zu sein. Wir haben weder einen militärischen
noch einen bürgerlichen Boulangismus zu fürchten Drei Grundsätze
werde ich selbst als Bewerber in mein Wahlprogramm schreiben und allen
wahren Republikanern empfehlen: zunächst Arbeitergesetze zur Regelung der
Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit, um die Härte der Wirtschafts-
gesetze durch eine Beimischung von Menschlichkeit zu mildern; ferner Steuer-
neuerungen, welche die Staatslasten gerechter nach der Leistungsfähigkeit der
Bürger verteilen; endlich ein Genossenschaftsgesetz, das die Beziehungen der
weltlichen und geistlichen Gesellschaft im Sinne der Duldung und Freiheit
endgültig regelt... Ich beschwöre meine politischen Freunde, vom Zen-
trum bis zur äußersten Linken, beide inbegriffen ihren Ehrgeiz für die