Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

Nebersicht der politischen Entwichelung des Jahres 1893. 319 
direktem Wege durch Dirigierung dieses Vasallenstaates die Herr- 
schaft über die Balkanhalbinsel zu gewinnen. Das Zarenreich 
fühlte sich aus seiner Eroberung von 1877 herausgeworfen. Seit- 
dem sinnt es auf den großen europädischen Krieg. Die Welt ist 
stehen geblieben trotz aller Veränderungen, weil sie in ihrem ganzen 
Dasein abhängt von diesem Kriege und der russische Zar den Ent- 
schluß dazu noch nicht gefaßt hat. Hier allein haben keine Ver- 
änderungen stattgefunden, weder in der russischen Politik noch in 
den Persönlichkeiten. Rußlands Wille ist es, der heute über Eu- 
ropa entscheidet. Warum nicht Deutschland? Sind wir nicht die 
Mächtigeren? Ist es etwa der neue Kurs, der des Mutes darbend 
Rußland die Befehlsstellung einräumt?! O nein, grade in dieser 
Frage setzt der neue Kurs am allerstrengsten die Richtung des 
alten fort, und wenn er von ihm abweicht, so ist es nicht in grö- 
ßerer Weichheit, sondern in größerer Fernhaltung von Rußland. 
Wie aber kommt Deutschland dazu, unter Kaiser Wilhelm I. wie 
unter Kaiser Wilhelm II., mit einem Kanzler Fürsten Bismarck 
wie mit einem Kanzler Grafen Caprivi, sich eine solche Heraus- 
forderung geduldig gefallen zu lassen? Hat es den Krieg zu fürch- 
ten? Geduld ist keineswegs immer ein Zeichen der Schwäche, son- 
dern ebenso oft ein Zeichen der Überlegenheit. Freilich legt Ruß- 
land Deutschland und ganz Europa durch seine Bedrohungen vie- 
lerlei Schranken, Lasten und Widerwärtigkeiten auf. Niemand 
aber in Deutschland will deshalb sofort zum Kriege schreiten. Es 
ist richtig, daß, was Rußland kann, wir nicht können, nämlich 
Europa in unausgesetzter Kriegsgefahr und Spannung erhalten. 
Aber nur deshalb können die Russen, was wir nicht können, weil 
jene ein barbarisches, wir ein Kulturvolk sind. Auch die Barbarei 
hat ihre Vorzüge, und diese müssen wir Rußland lassen. Die 
Barbarei kann, alle edleren und feineren Kulturblüten verachtend, 
abstreifend und zerstörend, in dem einen Gedanken unerhörter Kriegs- 
triumphe und unermeßlicher Eroberungen aufgehen. Ein Kultur- 
volk kann das nicht. Die Kultur legt sich selber Schranken auf, 
namentlich in der Anwendung von Gewalt. Diese Schranken find 
es, die wir heute in Deutschland empfinden, nicht Schranken, die 
uns eine wirkliche rusfische Überlegenheit auferlegte. Die Russen
	        
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