36 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 3.)
Männer, die die jetzige Vorlage vertreten, haben eine ungleich reichere
Kriegserfahrung; und ich weiß nicht, was Sie berechtigen sollte, diesen
Männern ein kompetentes Urteil abzusprechen. (Sehr richtig! rechts.)
Nun kann ich versichern: ich habe noch keinen General gesehen, keinen
Generalstabsoffizier, dessen Aufgabe es wäre, den künftigen Krieg voraus-
zudenken, der der Meinung gewesen wäre, unsere Streitkräfte wären im
Vergleich mit denen unserer Feinde so stark, daß wir auch nur annähernd
mit derselben Sicherheit wie im Jahre 1870 in den Krieg gehen könnten.
(Hört! hörtl rechts.)
Ueber die Art und Weise, wie die Armee zu verstärken ist, werden
sehr verschiedene Ansichten auch unter den Offizieren vertreten sein. Sie
werden schweigen, sowie der Allerhöchste Kriegsherr Seine Ansicht ausge-
sprochen hat. Daß aber auch in der Armee die geistige Uniformität glück-
licherweise nicht weit genug geht, um alles Einzeldenken zu unterdrücken,
das ist zweifellos.
Aber ich wiederhole noch einmal, all' den Berechnungen gegenüber,
die von jener Seite aufgemacht worden sind: nicht ein einziger General,
nicht ein einziger Generalstabsoffizier, der mit seiner Thätigkeit für die
Vorbereitung für den nächsten Krieg verantwortlich ist, ist der Meinung,
daß die Stärke, die wir jetzt haben, hinreicht. Alle stimmen dahin überein:
es ist das nicht der Fall, und wir brauchen qualitativ und quantitativ eine
Verstärkung unserer Wehrkraft.
Es handelt sich nach meiner und der verbündeten Regierungen An-
sicht um eine Frage von solchem Ernst und solcher Tragweite, von einer
so schweren Verantwortung, wie den deutschen Reichstag vielleicht noch nie
berührt hat. Es handelt sich — ich habe das, wie ich das erste Mal hier
gesprochen habe, schon ausgesprochen, und mit derselben Ueberzeugung spreche
ich es heute aus — um die Ehre, um das Dasein, um die Zukunft Deutsch-
lands. (Hu! Hu! links. — Bravol rechts.)
Und da verlangen Sie von uns, daß, weil Sie Rechenexempel ent-
gegenstellen denjenigen Offizieren, die mit voller Ueberzeugung auf Grund
ihres Wissens und Könnens behaupten: wir sind nicht stark genug — daß
wir da vor Ihrer Rechenkunst zurückweichen sollen? Nein, meine Herren,
da würden wir uns an Deutschland auf das schwerste versündigen! Wenn
wir einmal überzeugt sind: wir brauchen eine Verstärkung, so werden die
verbündeten Regierungen alle die verfassungsmäßigen Mittel, die ihnen zu
Gebote stehen, anwenden, um diese Verstärkung durchzusetzen. (Lebhaftes
Bravo rechts. Unruhe links.)
Warum brauchen wir nun eine Verstärkung? Zuerst wollen wir
den Frieden erhalten, wir wollen die Stellung, die Deutschland bisher ein-
genommen hat, und die ihm die Möglichkeit gibt, für die Erhaltung des
Friedens ein gewichtiges Wort einzulegen und dem Friedensstörer empfind-
lich zu werden, nicht aufgeben.
Man hat eingewandt: Der Reichskanzler hat selbst zugegeben, daß
seit 1890 unsere politische Lage sich nicht verschlechtert habe. Das hat er,
und das gibt er auch heute noch zu; aber wenn wir die Reform, die wir
Ihnen vorgeschlagen haben, erst dann vorschlagen würden, wenn unsere
politische Lage sich verschlechtert hat, dann würde es zu spät sein (sehr
richtig! rechts), und ich habe die Besorgnis, daß, wenn Sie dieses Gesetz
nicht annehmen, unsere politische Lage sich verschlechtern wird (sehr wahr!
rechts), und daß Deutschland es zu bereuen haben wird, daß das Gesetz
nicht angenommen worden ist. (Sehr wahr! rechts.)
Sie haben weiter gesagt: Es ist Sache der Diplomatie, für Bundes-
genossen zu sorgen; mag sie danach trachten, daß abgerüstet wird, mag sie