Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 3.) 39 
wehr des Feindes bald in die Lage kommen, von der Barriere, die der 
Rhein bildet, Gebrauch machen zu müssen. 
Ungleich ungünstiger liegen unsere Grenzen im Osten. Wir haben 
dort etwa 1000 km Grenze, die sehr weit in das Innere von Deutschland 
hineintritt. Diese Grenze ist durch kein Gebirge, keinen Fluß geschützt; 
sie liegt offen vor dem Feinde da. Kann uns denn das Schicksal dieser 
Grenzlande gleichgültig lassen? Kann es uns gleichgültig sein, ob Ost- 
preußen, Westpreußen, Posen, vielleicht Schlesien vom Feinde überschwemmt, 
ob sie der Kriegsschauplatz werden? Ich bin überzeugt, daß den älteren 
Bewohnern von Ostpreußen die Schilderungen des Winters von Friedland, 
von Eylau und der Schrecken, die er mit sich gebracht hat, noch erinnerlich 
sind. Ich rufe die Vertreter der Stadt Danzig auf: erinnert sich Danzig 
nicht mehr, was es bei zwei Belagerungen im Anfange des Jahrhunderts 
ausgehalten, in den Epidemien in der Hungers-, Feuer- und Wassersnot? 
Auch wenn man diese Dinge nur aus der Geschichte kennt, so ist es nicht 
möglich, das Schicksal solcher Provinzen im Kriegsfall auf die leichte Achsel 
zu nehmen. Lebhafter noch sind die Erinnerungen in der Pfalz. Zwar 
liegt weiter zurück die Zeit, in der sie den schwersten Drangsalen ausgesetzt 
war. Aber näher liegt doch jedenfalls das, was sie in sich im Jahre 1870 
durchgemacht hat; sie mußte damals darauf gefaßt sein, der Kriegsschau- 
platz zu werden. Die Einwohner der Pfalz haben an sich die Drangsale 
zu kosten angefangen. Was ist natürlicher, als daß man gerade da das 
lebhafte Gefühl dafür hat, daß die Streiträfte so weit verstärkt werden 
müssen, daß wir im stande sind, sie durch die einzige Weise, durch die wir 
unsere Grenze überhaupt schützen können, durch die Offensive wirksam zu 
machen? 
Ich habe in öffentlichen Blättern über die lebhafte Agitation in 
der Pfalz zu Gunsten der Militärvorlage mit einem gewissen Spott sprechen 
sehen. Meine Herren, dazu ist kein Anlaß. Die Lage des linken Rhein- 
ufers ist ernst, und ich frage Sie, die mitgewirkt haben an der Schöpfung 
Deutschlands: wozu haben Sie denn Deutschland geschaffen? Sollen unsere 
Grenzprovinzen dem Feinde preisgegeben werden? Oder haben wir Deutsch- 
land gemacht, um ein einig Volk von Brüdern zu sein, das in Gefahr mit 
einander steht, um so stark zu werden, daß wir nicht bei jedem Wetter- 
leuchten längs der Grenze in Besorgnis zu geraten brauchen? Und sehen 
Sie noch etwas weiter! Sind die Elsaß-Lothringer nicht auch unsere Brüder? 
Sind wir nicht froh und erfreut darüber, daß sie es geworden sind? — 
Und was sagt man ihnen nun? Wir brauchen nicht stark zu sein, um die 
Offensive zu führen; man hat in der Kommission mit Behagen sich auf das 
rechte Rheinufer zurückgezogen: wir könnten ja dahin gehen, der Rhein sei 
nicht leicht zu überschreiten. Ja, nennt man das Elsaß-Lothringen dem 
deutschen Reich gewinnen und germanisieren? Gewiß nicht! Meine Herren, 
die Verhandlungen, die über das Militärgesetz in einem Teil der Presse, 
zum teil auch in der Kommission geführt worden sind, können den Elsaß- 
Lothringern nur einen Schreck einjagen. Ich bin aber überzeugt: das ist 
nicht der Wille der deutschen Nation. Die deutsche Nation will die Elsaß- 
Lothringer schützen, sie will auch für diese unsere jüngsten Brüder den Säbel 
ziehen und mit allen Kräften eintreten. (Bravo! rechts.) 
Was hat man denn an Gründen vorgebracht? Sie sind ja in der 
Kommission zum großen Teil erschöpfend behandelt worden. Die Gründe, 
die wir vorgebracht haben für die Militärvorlage, von denen ist auch nicht 
ein einziger widerlegt worden. Man hat uns entgegengehalten: wir wollen 
nicht, wir können nicht, wir haben diese oder jene äußeren Gründe. Aber 
sachlich sind wir nicht ein einziges Mal, nicht in einem einzigen Grunde 
  
  
  
 
	        
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