Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

58 Das Penisthhe Reithh und seine einzelnen Glieder. (Mai 10. u. 11.) 
und ihrem den Wählern gegebenen Versprechen treu geblieben. Alle waren 
zur Stelle, Mann für Mann haben wir in namentlicher Abstimmung die 
Militärvorlage verworfen. Wir treten in die Reihen der kämpfenden Ge- 
nossen in dem Bewußtsein zurück, unfre Pflicht gegen die Partei, gegen die 
arbeitende Klasse, gegen unfre Wähler erfüllt zu haben. Ernst wird der 
Kampf sein, den durchzukämpfen wir alle am 15. Juni berufen sind. Nicht 
um die Militärvorlage allein wird es in dem neuen Reichstag sich handeln, 
sondern — darüber müssen wir uns klar sein — die Grundrechte des Volkes, 
vor allem das allgemeine Wahlrecht, sind in Gefahr. Das herrschende 
System, die Interessen der Besitzenden drängen nach ihrer Beseitigung! 
Parteigenossen! Wähler! Wir sind fest davon überzeugt, daß ihr mit ganzer 
Kraft in den Kampf eintreten werdet; wir fordern euch daher auf, unge- 
säumt die letzte Hand an die Organisation des Wahlkampfes zu legen und 
namentlich auch dafür zu sorgen, daß die für diesen Kampf erforderlichen 
Mittel in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen.“ 
Die freisinnige Vereinigung: 
„Der Reichstag ist aufgelöst, weil sich die Volksvertretung mit der 
Reichsregierung nicht über das Maß der Heeresverstärkung und nicht über 
die gesetzliche Sicherstellung der zweijährigen Dienstzeit zu einigen vermocht 
hat. Bedauerlicherweise unterliegt einem leidenschaftlichen Wahlkampf die 
Entscheidung darüber, wie stark die Rüstung Deutschlands sein soll, um die 
Grenzen und die Ehre unseres Vaterlandes und den Frieden Europas zu 
sichern. Ueber das Ziel sind alle Parteien mit der Regierung einig, und 
über die Mittel zur Erreichung jenes Zieles hätte ebenfalls eine Einigung 
gewonnen werden können, wenn die Regierung ein genügendes Verständnis 
für die Stimmung des Volkes besessen hätte. 
Eine Volksvertretung, die mehr sein will als ein Scheinparlament, 
muß gerade in Fragen der militärischen Belastung, welche so tief in alle 
bürgerlichen Verhältnisse eingreifen, den Anspruch auf volle Berücksichtigung 
gerechter Forderungen der Nation erheben. Zu diesen gehört vor allem die 
dauernde, gesetzmäßige Festlegung der zweijährigen Dienstzeit. Die Zugeständ- 
nisse der Regierung waren aber darum ungenügend, weil sie die Möglich- 
keit offen ließen, die zweijährige Dienstzeit nach fünf Jahren wieder zu be- 
seitigen. Andererseits stellte die geforderte Heeresverstärkung eine so außer- 
gewöhnliche Erhöhung der Volkslasten dar, daß deren Uebernahme ohne 
die gefestigte Ueberzeugung ihrer Notwendigkeit keinem gewissenhaften Volks- 
vertreter zuzumuten ist. 
Jetzt liegt es in der Hand der Wähler, solche Vertreter in das 
Parlament zu senden, welche unter freier Prüfung über das militärisch und 
politisch durchaus Notwendige an dem Standpunkt festhalten, daß das Volk 
nicht nur die Lasten und Kosten des Heeresdienstes zu tragen hat, sondern 
berufen ist, auch über deren Höhe ein entscheidendes Wort mitzusprechen. 
Wir sind der Ansicht, daß bei Uebernahme neuer großer Militärlasten die 
dauernde gesetzliche Festlegung der zweijährigen Dienstzeit eine gerechte und 
dem Volke nicht zu verweigernde Forderung ist. Für das Maß der Heeres- 
verstärkung muß ferner entscheidend ins Gewicht fallen, wie die Kosten- 
deckung erfolgen soll. Wir lehnen es ab, die Kosten auf die Schultern der 
ärmeren Klassen zu legen, die seit 1879 immer in erster Linie nicht nur 
zur Deckung von Reichsausgaben, sondern auch zur Unterstützung privile- 
gierter Produzenten in der Form von Schutzzöllen, Ausfuhrprämien und 
Liebesgaben herangezogen sind. 
Die Abstimmung einzelner Mitglieder der deutsch-freisinnigen Partei 
über die Militärvorlage hat zu einer Lösung des Fraktionsverbandes ge- 
 
	        
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