Des Vernische Reich und seine einzeluen Glieder. (Mai 10. u. 11.) 61
Hier liegt der Schwerpunkt des Kampfes; denn eine Reihe der für die
wirtschaftliche und soziale Gestaltung unfres Staatslebens wichtigsten Ent-
scheidungen wird der neue Reichstag zu treffen haben.
Es ist ein Kampf für unfre Existenz, für unfre Arbeiter, für unfre
Familien, für unser ganzes Vaterland, welchem wir entgegengehen. Zeigen
wir, daß die deutschen Landwirte sich voll bewußt sind der Verantwortung,
welche in dieser Wahl liegt, daß das Bemühen unfrer Feinde, unfre Einig-
keit zu stören und künstlich einen Gegensatz zwischen den kleinen und großen
Besitzern zu schaffen, vergeblich ist. Nicht das wollen wir hervorsuchen,
was uns trennt, nein, das was uns eint. Die geeinte deutsche Landwirt-
schaft ist das festeste Fundament unfres Vaterlandes, an dem alle feindlichen
Wogen machtlos zerschellen werden. Die Blüte der Landwirtschaft ist die
sicherste Bürgschaft für des Vaterlandes Macht und Größe. Berlin, im
Mai 1893. Der Bund der Landwirte. v. Ploetz. Dr. Roesicke. Lutz. Dr.
H. Suchsland.
150 westphälische Landwirte mit dem Freiherrn v. Schor-
lemer an der Spitze erlassen einen besonderen Aufruf:
. Schon lange laste auf der heimatlichen Landwirtschaft, insbesondere
auf dem Bauernstande, aber auch auf den Handwerkern und kleinen Ge—
werbetreibenden, mit welchen die Landwirte sich solidarisch fühlen, ein
schwerer Druck. „Die Handelsverträge mit ihrer Ermäßigung der Schutz-
zölle haben die Landwirtschaft geschädigt, der Industrie wenig genutzt..
Der aufgelöste Reichstag hat den berechtigten, auch noch auf andere Ge-
biete sich erstreckenden Wünschen und Interessen der Landwirtschaft nicht
genügend Rechnung getragen; es fehlte namentlich den westfälischen Land-
wirten eine nach Zahl und Wirksamkeit genügende Vertretung in dem-
selben.. Wir haben uns bis da von der Bildung einer eigenen Partei
zur Erreichung dieser Ziele ferngehalten in dem Vertrauen, daß innerhalb
der bestehenden Parteien, insbesondere auch der Zentrumspartei, unfre be-
rechtigten Wünsche und Forderungen Anerkennung und Berücksichtigung
finden würden.“ Die bescheidenen Wünsche, wenigstens für zwei weitere
Wahlkreise bei der bevorstehenden Reichstagswahl Landwirte als Abgeord-
nete aufzustellen, so daß von den neun Wahlkreisen vier von solchen ver-
treten würden, seien von der Versammlung der Vertrauensmänner der Zen-
trumspartei Westphalens durch Uebergang zur Tagesordnung abgelehnt
worden. „Damit ist die Nichtanerkennung unfrer berechtigten Wünsche, die
Zurückstellung der Lebensinteressen der westphälischen Landwirtschaft hinter
einem einseitigen Parteistandpunkt ausgesprochen. Wir standen und stehen
als Katholiken unentwegt fest zu dem Programm der Zentrumspartei in
den religiös-politischen und christlich-sozialen Fragen und folgen auch ferner
der Fahne, die die Mallinckrodt, Reichensperger, Windthorst, Schorlemer,
Franckenstein, Ballestrem aufgepflanzt und hochgehalten haben. Wir wollen
als freie deutsche Staatsbürger frei unsern katholischen Glauben ausüben
können und verlangen Abschaffung aller diesbezüglich noch behindernden
Gesetze. Wir wollen aber auch als westphälische Bauern wie unsre Vor-
fahren im Besitze unsrer ererbten Höfe bleiben und unser bedrohtes Eigen-
tum nicht ohne den erbittertsten Kampf uns nehmen lassen. Deshalb ver-
langen wir, daß die Abgeordneten, denen wir unfre Stimme geben: 1) Fest-
halten in allen religiös-politischen und sozialen Fragen an dem altbewährten
Programm des Zentrums; 2) Eintreten für den Schutz der produktiven
Stände — des Bauernstandes, Handwerkerstandes und der kleinen Gewerbe
— durch Ablehnung jeder Zollermäßigung unfrer Produkte. Eintreten für
Sperrung unfrer Grenzen gegen Einführung von Vieh aus verseuchten Län-