Das Denishe Reichh und seine einzelnen Glieder. (Juni 18.) 75
lands Unabhängigkeit herbeizuführen, wenn nicht vollständig, so doch vor-
bereitend. Vor 78 Jahren, gerade am heutigen Tage, war die Schlacht bei
Waterloo, die uns von der Fremdherrschaft im eigenen Lande befreit hat
und der sich die Aelteren unter uns noch erinnern, während den Jüngeren
davon erzählt worden ist. Außer diesen historischen Erinnerungen, die sich
an den heutigen Tag knüpfen, hat der 18. Juni für mich noch eine andere
persönliche Bedeutung. Es war heute vor einem Jahre, als ich die Reise
ur Hochzeit meines Sohnes antrat und nach Dresden abreiste, wo mir ein
in hohem Maße ehrenvoller Empfang von meinen sächsischen Landsleuten zu
Teil wurde: nicht minder demnächst in Bayern, in München, Augsburg;
in Schwaben, in Kissingen; in Thüringen, in Jena. Daran haben sich jetzt
die Begrüßungen meiner norddeutschen Landsleute angeschlossen, zuerst aus
der Provinz, der ich jetzt angehöre, aus Schleswig-Holstein, dann die Olden-
burger, die vom Westen her nach Friedrichsruh gefahren waren, und nun
heute meine östlichen und, meinem Gefühl als Brandenburger nach, auch
nördlichen Nachbarn, die Mecklenburger. Ich bin Ihnen ganz besonders
dankbar für diesen Abschluß in der Vollständigkeit der Huldigungen der
deutschen Stämme, den Sie mir heute gewähren, und ich sehe darin eine
Anerkennung der Mitarbeit, die ich im stande gewesen bin, durch die Gnade
meines alten Herrn, des Kaisers Wilhelm I., bei der Wiederherstellung der
deutschen Einigkeit zu leisten. Es war das Werk im ganzen kein leichtes.
Wir Deutschen hängen unserer Natur nach inniger und enger an unseren
heimischen Verbänden, als an der Allgemeinheit, namentlich, da durch die
Ungunst der Jahrhunderte das Gefühl einer größeren Allgemeinheit und festen
Zusammengehörigkeit unterdrückt worden war. Der Partikularismus jener
Zeiten liegt uns einigermaßen im Blute, und nach meiner Erfahrung kann
ich nicht einmal sagen, daß man da viel ändern kann; dieses Gefühl hat
immer im Landesherrn seinen Schwerpunkt gehabt. Ich kann auch kaum
behaupten, daß alle immer das rechte Gefühl der Zusammengehörigkeit ge-
habt haben. Nach meiner Erfahrung ist der Widerstand gegen dieselbe immer
ausgegangen von den Beamtendynastien am Hofe und im Staate, und dieses
Konglomerat hat bis auf den heutigen Tag die lokale Erinnerung an früher
nicht verloren. Es war zwar schwer, die richtigen Wege und Grenzen zu
finden. Es würde meines Erachtens eine große Thorheit sein, wenn man
einen engeren Verband, seine engere Heimat aufgeben oder zerstören wollte.
Die Mecklenburger sollen Mecklenburger und ihr Großherzog soll in seinem
Lande der Herr bleiben und in seiner selbständigen Existenz nicht erschüttert
werdeu. Aber darunter darf das Reich nicht zu leiden haben; freiwillig
müssen die Beziehungen zu demselben sein, freiwillig die Mitwirkung an
der Einigkeit der deutschen Nationalität. Das Gefühl, zur deutschen Natio-
nalität zu gehören, muß sich im Lokalpatiotismus lebendig erhalten. Die
unitarischen Bestrebungen, die manche meiner Landsleute gepflegt haben,
mögen für Theoretiker und andere Nationen sich eignen; für den germa-
nischen Charakter halte ich sie nicht für praktisch. Ohne mir ein Verdienst
daraus zu machen, wenn das Resultat schließlich ein befriedigendes für die
Gesamtheit gewesen ist, kann ich sagen, daß die Gesamtleitung die deutsche
Nation in Europa so zusammengebracht hat, wie sie jetzt besteht, und damit
das, was andere Nationen, England und Italien, längst genossen hatten,
auch uns anzueignen. An diesen Grenzlinien zwischen Heimatsgefühl und
Vaterlandsgefühl zu rütteln, halte ich nicht für nützlich, sondern gefährlich,
und ich glaube, daß derjenige, der es thut, nicht viel zu thun, aber viele
Muße haben muß um allerlei Erperimente zu machen. Sie wissen, das
Beste ist des Guten Feind, aber ich möchte hier sagen, das scheinbar Beste
ist des Guten Feind. Sehen Sie nach Rußland und England, wo die Uni-