Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

154 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Sept. 23.) 
in einem solchen Falle bis zur Unmöglichkeit kompliziert werden durch die 
nie zu befriedigenden Ansprüche dieser dritten Macht in der Trias Ungarn, 
Cisleithanien und Polen. 
Aber ich spreche von einer Utopie, die ja ganz unerreichbar ist. Wie 
sollte man dazu kommen? Aber wenn es erreichbar wäre, selbst im Frie- 
den, so wäre es für uns ein Unglück. Uns war meiner Ueberzeugung nach, 
und ich stehe seit vierzig Jahren in der großen europäischen Politik, die 
russische Herrschaft, die russische Nachbarschaft zwar oft unbequem und be- 
denklich, aber doch lange nicht in dem Maße, wie es eine polnische sein 
würde (Lebhafter Beifall), und wenn ich die Wahl zwischen beiden habe, 
so ziehe ich immer noch vor, mit dem Zaren in Petersburg zu verhandeln 
zu haben, als mit der Szlachta in Warschau. Es liegt das ja nicht im 
Bereiche der Wahrscheinlichkeit und Möglichkeiten und ich spreche von phan- 
tastischen Konjekturen, aber die Polen rechnen damit, sprechen davon und 
glauben daran und werden zuweilen ermutigt durch deutsche Gutmütigkeit 
und deutsches Wohlwollen. (Zustimmung und lebhafter Beifall.) 
Das ist, was ich hauptsächlich betone, wogegen ich kämpfe, gegen 
den Rest von Glauben an das polnische Junkertum, der sich bei manchem 
deutschen Liberalen noch immer vorfindet. Es ist immer ein Irrtum; ein 
Schutzstaat gegen russische Invasion ist selbst das starke Großpolen von 
vor 1772 nie gewesen. Die russischen Armeen marschierten nach Zorndorf 
und Kunersdorf nach ihrem Belieben quer durch Polen durch und niemand 
hielt sie auf. Und die Franzosen, wie sie sich im Kriege mit Rußland be- 
fanden und auf den Rückzug gerieten, haben bei ihren polnischen Freunden 
kein Replis und keinen Halt gefunden, sie haben sich nicht aufhalten lassen. 
Die Polen haben sich tapfer geschlagen im Jahre 1830 und 1831, aber 
das war eine geschulte polnische Armee unter Leitung des Großfürsten Kon- 
stantin, der sich innerlich freute, wenn die von ihm vorzüglich einexerzierte 
rein polnische Armee den Russen gegenüber Siege gewann und der sich die 
Hände darüber rieb, daß seine Polen dies thaten (Hört! hörtl). Ohne 
eine solche, ein halbes Menschenalter dauernde Vorbereitung, wie sie die 
polnische Armee damals hatte — und sie war wirklich eine gute Truppe 
damals —, wären selbst die Leistungen von 1831 nicht möglich gewesen. 
Und sie waren doch nicht einmal nachhaltig. Sie konnten sich selbst in 
dieser Notlage unter einander nicht vertragen. Im Frieden sind sie schon 
einig, solange sie dem geduldigen Deutschen gegenüberstehen; aber sowie sie 
frei sind, das Terrain für sich allein haben, sind sie uneinig. So würde 
es auch später sein. 
Nun, ich spreche immer nicht in der Hoffnung und in der unfrucht- 
baren Absicht, den polnischen Adel zu gewinnen und zu bekehren, sondern 
ich spreche nur in der Hoffnung, bei unseren deutschen Landsleuten den 
letzten Rest von Polen-Sympathie, von Sympathie für Polonisierung und 
für das polnische Junkertum zu bekämpfen und auszurotten und meine 
deutschen Landsleute zu bewegen, daß sie gegenüber diesen phantastischen 
Bestrebungen und Sympathien fest zusammenhalten und sie sich auch nicht 
bis an den Mantel kommen lassen (Heiterkeit, Beifall), viel weniger bis 
ins Herz hinein, wie es bei uns mitunter früher geschehen ist. (Zustim- 
mung.) Der deutsche Liberale hat immer für den preußischen Adel, sobald 
er ihm nicht bequem war, sofort die Bezeichnung „Junkertum“ bereit ge- 
habt, von dem polnischen Adel, der ja viel mehr Junker ist, als der preu- 
ßische und deutsche es je in seinem Leben war und sein konnte, haben sie 
immer nur von „nationalen Bestrebungen“ gesprochen, während die ganzen 
polnischen Bestrebungen, mit denen wir zu kämpfen haben, reine Kasten- 
bestrebungen sind, für die Kaste des Adels, gegen die anderen. Wir könnten
	        
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