Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Elfter Jahrgang. 1895. (36)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 10. - 15.) 105 
Rußland ist jedenfalls ein besserer Nachbar, als mancher anderer; jedenfalls 
ist mit Rußland als Nachbar leichter zu leben, als es mit Polen sein 
würde. Deshalb bleiben Sie gut Deutsch, aber schädigen Sie die russische 
Freundschaft nicht.“ 
10. April. (Friedrichsruh.) Fürst Bismarck empfängt die 
Direktoren des Norddeutschen Lloyd, die ihm ein Modell des 
Schnelldampfers Prinz Luitpold überreichen. Auf eine Ansprache 
antwortet er: 
„Schon vor 600 Jahren hat die Bremer Flagge in den Kreuzzügen 
als eine Hauptstütze des Deutschen Kaisers und des Deutschen Reiches eine 
Rolle gespielt. Ihnen, die Sie die Geschichte Ihrer Vaterstadt kennen, wird 
der Name des Bremer Rheders Walbot, der später der Gründer eines 
rheinischen Grafengeschlechts geworden ist, nicht unbekannt sein. Damals 
trugen die Bremer Handelsschiffe ihre Flagge in das Mittelmeer und zu 
der syrischen Küste und waren die eigentlichen Stifter des Deutschen Ordens, 
der nachher eine große und mächtige Gemeinschaft geworden ist. Dieser 
nationale Geist in unseren Küstenländern, die Sie „de Waterkant" nennen, ist 
nachher ungeteilt erhalten geblieben und durch nichts vom gemeinsamen 
Interesse abgeleitet. Er ist immer ein nationaler geblieben; diese reichs- 
städtische und republikanische Verfassung hat sich vom Partikularismus 
freier gehalten, als es im Inlande, von Preußen bis Baden gerechnet, der 
Fall gewesen ist. Die Uneinigkeit der Deutschen beruht nicht, wie man ge- 
wöhnlich meint, auf der Stammessverschiedenheit, man kann nicht sagen, 
daß die Bayern und Sachsen sich nicht vertragen, wenn sie bei einander 
sind, sondern es sind die dynastischen Verschiedenheiten, welche Grenzen ge- 
schaffen haben, die das Gebiet gleicher Stammesgenossen quer durchschneiden, 
zwischen den plattdeutschen Altmärkern und den plattdeutschen Lüneburgern, 
zwischen den Wettiner Landschaften und dem alten Thüringen, wie in den 
hohenzollernschen Gebieten, und wie dort in Schwaben die Beispiele am 
schärfsten sind, wie der Schwabe gegen den Schwaben sich abschanzte als 
Reichsritter in den Reichsdörfern und Reichsstädten, so war es auch in 
Westfalen. Man muß also nicht die Stammesverschiedenheit anklagen. Es 
ist die Verschiedenheit der Herrscher gewesen, die Fürsten vertrugen sich nicht 
unter einander, und so wurden die Unterthanen nach der Farbe der Uniform, 
die sie trugen, veranlaßt, auf einander zu schießen. Daß dies beseitigt 
worden ist, danken wir den regierenden Autoritäten, die auf das traurige 
Privilegium verzichtet haben, ihre deutschen Unterthanen gegen einander 
fechten zu lassen, und da find die hanseatischen Regierungen besonders ais 
lich und wirksam gewesen. Sie haben Sonderinteressen gehabt, aber sie 
haben schließlich doch das Gefühl, einem großen deutschen Volke anzugehören, 
behalten, weil sie die deutsche Flagge zur See beinahe allein vertreten 
haben.“ 
15. April. (Friedrichsruh.) Fürst Bismarck empfängt 
etwa 70 Herren und Damen aus Steiermarck und eine Abord- 
nung österreichischer Studenten, die ihm unter mehreren An- 
sprachen einen Pokal mit steirischem Wein überreichen. Er er- 
widert: 
„Meine Herren! Ich danke Ihnen für Ihren Besuch, für Ihr 
ierherkommen zu diesem Zweck und in dieser Zeit und sehe in diesem 
trauß, gemischt von den Blumen der Ebene, dem Heidekraut und der 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.