rankreith. (Juni 10.) 257
neue Gruppierung der Mächte ein. Rußland, Frankreich und England
find bestrebt, im Einvernehmen mit der hohen Pforte diese gleichfalls schwie-
rige Frage zu lösen. Wie ich gesagt habe, ist hier die Gruppierung der
Mächte eine andere, und dennoch, wer würde sich wohl beklagen, daß sie
sich so vollzogen hat, wer wundere sich darüber, daß Frankreich und Ruß-
land, die auch hier geschlossen handeln, ihre Bemühungen mit denen Eng-
lands zum Wohle des Friedens verbinden. So können in speziellen Fällen
die Mächte gemeinsam friedliche Resultate anstreben, ohne die allgemeinen
Interessen ihrer nationalen Politik aus den Augen zu verlieren. Ich füge
hinzu, daß dies für uns die Bedingungen einer jeden Politik find, die nicht
will, daß Frankreich auf seine ihm gebührende Rolle bei der Regelung der
Weltangelegenheiten verzichtet. Delangle-Beaumanoir hat im Laufe seiner
Rede einen anderen Punkt berührt, über den die Regierung sich vor dem
Parlament und vor dem Lande zu erklären wünscht. Es handelt sich um
die Teilnahme Frankreichs an der Einweihungsfeier des Nord-Ostsee-Kanals.
Stehen wir hier vor einer Thatsache, welche einen Wendepunkt in unserer
Politik bezeichnet? Haben die Gründe, welche unsere Entscheidung be-
stimmten, eine politische Tragweite, die im Widerspruch steht mit dem, was
bis zum heutigen Tage geschehen ist? Nein, meine Herren, das ist nicht
der Charakter der Einladung, die an uns ergangen ist, das ist nicht der
Charakter unserer Zusage. Wir legen Wert darauf, hierüber keinen Zweifel
bestehen zu lassen. Im übrigen haben wir auch von Anfang an unsere
Empfindungen in dieser Hinsicht zu deutlich zu erkennen gegeben, als daß ich
schwanken könnte, öffentlich diese Erklärung für einen Akt der internatio-
nalen Höflichkeit, der sich an alle Mächte richtete und der durch einen Akt
der internationalen Höflichkeit erwidert wurde, zu wiederholen. Auf diese be-
stimmten Grenzen haben wir eine Beteiligung beschränkt, die keinen anderen
Charakter hat oder haben kann. Im vollen Frieden müssen die Beziehungen
der Völker zu einander geleitet sein durch ein würdiges und einfaches Gefühl
für das international Angemessene. Augenscheinlich analoge Erwägungen
haben auch die früheren Regierungen geleitet, als sie beschlossen, an dem
Berliner Kongreß 1878 und an den Kongo-Konferenzen 1885 teilzunehmen,
eine militärische Deputation zu der Beisetzung Kaiser Wilhelms I. im Jahre
1888 und eine politische und eine Arbeiterdeputation zu dem Kongreß von
1890 zu entsenden, und obgleich sich gewisse Beweggründe auch damals
zeigten, als jene Entschlüsse gefaßt wurden, hat doch später niemand be-
haupten können, und wird auch morgen niemand behaupten können, daß
irgend etwas in den Empfindungen oder in dem moralischen Ansehen einer
Nation verändert worden ist, die unbezwinglich treu an ihren Erinnerungen
hält und auf ihre Zukunft vertraut. Ich glaube, meine Herren, daß diese
aufrichtige Darlegung als Antwort auf jene Befürchtungen genügt, zu deren
Echo sich Delangle-Beaumanoir in diesen Räumen gemacht hat, und ich
hoffe, daß der Senat sich mit diesen kurzen Erklärungen begnügen wird.
10. Juni. (Deputiertenkammer.) Debatte über die Aus-
wärtige Politik und die Allianz mit Rußland.
Auf eine Interpellation Milleraud über Frankreichs Rolle in Ostafien
und Beteiligung an der Kieler Feier erwidert der Minister des Auswärtigen
Hanotaux: Frankreichs Politik sei keine Politik der Verzichtleistung.
Frankreichs nach Kiel entsandte Seemacht werde dort ein freies und starkes
Frankreich repräsentieren, das keine Vergleiche fürchte und keine Erinne-
rungen verleuge. Frankreich habe in der chinesisch-japanischen Frage nicht
Rußland die Schwierigkeiten überlafsen wollen, welche auf dessen allgemeiner
Politik gelastet haben würden. Frankreich habe sich nicht durch eine un-
Europ. Geschichtskalender. Bd. XXXVI. 17