Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar Mitte-15.) 19
von durch die erlittene Untersuchungshaft 75 Tage als verbüßt zu erachten)
und Degradation, und ein anderer Unteroffizier wegen Ungehorsams, Ach-
tungsverletzung, gemeinsamer Achtungsverletzung und Aufwiegelung mit
fünf Jahren und fünf Monaten Gefängnis und Degradation bestraft worden.
Mitte Januar. Preßstimmen über die erste Lesung der
Umsturzvorlage.
Die mittelparteiliche Presse ist im allgemeinen wenig befriedigt von
dem Verlaufe der Reichstagsverhandlungen.
„Berl. Neueste Nachr.“: Die fünftägige Debatte hat, so wort-
reich sie auch verlief, nur in einzelnen Phasen die Höhe erklommen, welche
die für die Wahrung der Staatsautorität so bedeutsame Frage füglich in
Anspruch nehmen darf. Zu diesen Höhepunkten gehört die große Rede des
Sozialdemokraten Auer, sodann die bestimmte und konsequente Absage an
die sozialrevolutionäre Lehre, die Frhr. v. Stumm vortrug, die soldatisch
tapfere und von allem Deuteln und Kompromittieren bewußt sich entfernende
Erklärung des preußischen Kriegsministers und die in großen Zügen weit
ausgreifende und von dem nationalen Pathos, das diesem Redner eigen
ist, belebte Betrachtung des Herrn von Bennigsen, die freilich mancherlei
Einwände gegen sich wachruft. Was zwischen diesen Spitzen liegt, ist mehr
erläuterndes Beiwerk und zum Teil die Wiederholung tausendfach gehörter
Gemeinplätze gewesen.
„Hamb. Nachr.“: Ein Ausnahmegesetz hätte eingebracht werden
müssen. „Wir bleiben dabei, daß die Vorlage für den Kampf gegen die
Sozialdemokratie zu wenig, für das gemeine Recht der Gesamtheit der
Staatsbürger gegenüber aber zu viel fordert und in letzter Beziehung Ge-
fahren erzeugt, deren Würdigung ein ablehnendes Votum auch bei solchen
Abgeordneten und Parteien bewirken könnte, die wahrscheinlich einem weit
energischeren Vorgehen zugestimmt hätten, wenn es speziell und ausgespro-
chenermaßen gegen die Sozialdemokratie gerichtet gewesen wäre, ohne die
Freiheit der übrigen, staatserhaltenden Parteien zu gefährden.
Die „Schles. Ztg.“" ist unzufrieden mit der Verteidigung der Vor-
lage durch die Regierung und schreibt dann: „Die Umsturzvorlage mag
angenommen werden oder nicht — ihr wird kurz oder lang eine andere
folgen müssen, wenn nicht alles der Zerstörung anheimfallen soll, was eine
mehr als tausendjährige Kultur geschaffen hat, und wenn nicht vernichtet
werden soll, was in der großen Zeit der geistigen Wiedergeburt unseres
Volkes gewonnen worden ist. Gebe Gott, daß die herrschenden Gewalten
im Vaterlande sich zum Erlasse eines neuen und wirksameren Gesetzes gegen
den Umsturz entschließen, ehe die giftige Saat vaterlandsloser Agitatoren
zu blutiger Frucht gereift ist."
„Hannov. Courier“: „Das deutsche Volk sieht den Entscheidungen
der nächsten Wochen mit sorgenvoller Spannung entgegen, denn das Be-
wußtsein beherrscht alle Kreise, daß es sich um mehr handelt, als um die
Ablehnung oder Annahme eines Gesetzentwurfs.“
15. Januar. (Berlin.) Eröffnung des Landtags mit fol-
gender Thronrede:
Erlauchte, edle und geehrte Herren von beiden Häusern des Land-
tags! In gewohnter Weise habe Ich Sie zur verfassungsmäßigen Mitarbeit
berufen und entbiete Ihnen bei Wiederaufnahme Ihrer Thätigkeit Meinen
königlichen Gruß. Der Haushaltsplan für das Jahr 1895,96, welcher in-
folge des Abschlusses der Steuerreform und der Neuordnung der Eisenbahn-
verwaltung wie des Kassenwesens im Bereiche der Verwaltung der direkten
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