Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 18. —22.) 25
18./19. Januar. (Reichstag.) Justizvorlage.
Abg. Lenzmann (freis. Bp.) erklärt, das Vertrauen in die Straf-
rechtspflege sei erschüttert, weil von der Strafkammer oft mit großer Herz-
losigkeit gegen den Angeklagten verfahren werde. Ebenso sei die Stellung
des Verteidigers unwürdig. Der Redner kritisiert viele Einzelheiten der
Vorlage; er fordert u. a. ebenfalls eine Entschädigung für unschuldig er-
littene Untersuchungshaft und protestiert, daß den Schwurgerichten bedeu-
tende Delikte, wie Unzucht, Konkurs, Meineid entzogen werden sollen. Am
folgenden Tage wird die Vorlage nach einigen kritischen Bemerkungen der
Abgg. Grillenberger (Soz.) und Marquardsen (nul.) an eine Kom-
mission von 28 Mitgliedern verwiesen. (Vgl. Schiffer, Die Verfassung der
Kollegialgerichte, „Preuß. Jahrb.“ Bd. 78 und Aulus Agerius,. Der Ein-
fluß der Staatsanwaltschaft in der preußischen Justiz. Daselbst Bd. 81.
v. Bar „Nation“ 1895, 17.)
20./21. Januar. (Duisburg.) Parteitag der rheinischen
Sozialdemokratie.
In den Verhandlungen, in denen vorwiegend Dr. Lütgenau, die
Reichstagsabgg. Meist und Schumacher das Wort führen, ist haupt-
sächlich von der Agitation auf dem Lande die Rede. Eine Resolution er-
klärt es als unzulässig, „dem ländlichen Kleinbesitz Hoffnung auf seine
Erhaltung zu machen“ und fordert unbedingt „Vergesellschaftlichung des
Grundes und Bodens“. (Vgl. den sozialist. Parteitag. Okt.)
21. Januar. (Preuß. Abgeordnetenhaus.) Etat. Richter
über Ministerwechsel.
Minister der öffentlichen Arbeiten Thielen bitttet um schnelle Er-
ledigung des Eisenbahnetats im Interesse der Vorbereitungen für die Aus-
führung der am 1. April in Kraft tretenden neuen Organisation der Eisen-
bahnbehörden (vgl. Jahrg. 1894 S. 101). Abg. Richter (frs. Vp.) greift
die finanziellen Auseinandersetzungen des Finanzministers, namentlich seine
Schätzung des Defizits, die viel zu hoch sei, scharf an; er tadelt das Kom-
munalabgabengesetz und das Tarifsystem der Eisenbahnen. Ferner rügt er
die Art der Ministerernennung; da das Kollegium der Minister nie gefragt
werde, wenn ein neuer ernannt werde, so könne das Staatsministerium
keinen einheitlichen Charakter haben, daher herrsche auch augenblicklich ein
Zickzackkurs. Finanzminister Dr. Miquel: Bei einer Schuldenlast von
6 Milliarden und noch nicht /2% Amortisierung könne er die Finanzlage
nicht für so günstig wie Abg. Richter ansehen. Es müsse vor allem eine
Balancierung der Einnahmen und Ausgaben des Reichs hergestellt werden,
aber in den letzten Jahren habe sich das Verhältnis der Einzelstaaten zum
Reiche um 100 Millionen verschlechtert. Eine Tarifreform im Sinne Richters
werde die Einnahmen vermindern aber nicht erhöhen. Vizepräsident des
Staatsministeriums v. Bötticher weist den Vorwurf, daß das Ministerium
keine einheitliche Politik treibe, zurück.
22. Januar. (Preuß. Abgeordnetenhaus.) Etat. Fürst
Hohenlohe über die Ministerwechsel. Konversionsfrage.
Abg. Bachem (Z.) bespricht die Veränderungen im Ministerium.
Er erklärt sich sodann gegen die Besteuerung der Einkommen unter 900 M
und empfiehlt dafür stärkere Heranziehung der Einkommen über 10000 M
die Konversion der 4 prozentigen Rente müsse als letzte Reserve betrachtet
werden. Weiter tadelt er, daß für evangelische Zwecke im Etat mehr als