Aeberscht der politischen Eutwickelung des Jahres 1895. 323
überlassen bald durch innere Zwistigkeiten in ihrer Aktionsfähigkeit
gehemmt sein wird. Der Staat hat nur die Aufgabe, durch soziale
Reformen die allgemeine Unzufriedenheit zu mindern. Das Schicksal
des Gesetzes sollte indessen nicht von diesen beiden Richtungen, son-
dern von einer dritten, dem Zentrum, bestimmt werden. Die Zen-
trumsredner führten aus, daß nicht die verführten Massen die ge-
fährlichsten Feinde der Gesellschaft seien, sondern diejenigen, die den
Sozialdemokraten die Waffen zu ihrer verderblichen Agitation liefer-
ten: die Professoren, die die Unsterblichkeit der Seele, das Dasein
Gottes leugneten und damit alle hergebrachten sittlichen Anschau-
ungen erschütterten (S. 4). In der Kommission gelang es dem
Zentrum einige Strafbestimmungen durchzusetzen, die Religion und
Sitte schützen sollten (S. 115), aber wiewohl die weitgehendsten
Zentrumsanträge abgelehnt waren (S. 59), so war doch hierdurch
die Tendenz der Vorlage durchaus verändert; nicht mehr gegen die
Ausschreitungen der Sozialdemokratie, erklärten die Mittelparteien,
seien ihre Bestimmungen gerichtet, sondern gegen die freie wissen-
schaftliche Forschung. Unter diesen Umständen war keine Mehrheit
für das Gesetz zu finden und es fiel nach mehrtägiger Verhandlung
(S. 136).
Dieser resultatlose Streit absorbierte zum großen Teil die Neichs-
Thätigkeit des Reichstags und positives wurde wenig geschaffen. Wie 109.
im vorigen Jahre wurde viel über die Not der Landwirtschaft
debattiert; einige „kleine Mittel“, die Branntweinsteuer und die
Erhöhung der Zuckerprämie wurden angenommen, der Antrag Kanitz
jedoch, der einer langen Beratung im Preußischen Staatsrate unter-
zogen wurde, nicht zum Gesetz erhoben. Vornehmlich von dem Ge-
sichtspunkte aus, eine Steigerung der Getreidepreise zu erzielen,
wurde die Währungsfrage ausgiebig behandelt und ein Antrag auf
internationale Regelung der Währung angenommen, worüber die
Erörterungen des Bundesrats noch fortdauern. Nicht zur Erledi-
gung kamen einige Justizvorlagen und die Reichsfinanzreform in-
folge der Ablehnung der Tabaksteuer, in der Verstärkung der Marine
dagegen kam der Reichstag den Wünschen der Regierung entgegen.
Daneben fanden zahlreiche sozialpolitische Debatten statt über Orga-
nisation des Handwerks, Arbeitervertretungen und ähnliche Probleme,
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