Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Elfter Jahrgang. 1895. (36)

324 Nedersicht der politischen Culwichelung des Jahres 1895. 
die aber ohne positives Resultat blieben und nur die Einleitung 
und Anregung zu einer neuen sozialen Gesetzgebung bilden sollten. 
Preußi · Im preußischen Landtage wurde die agrarische Frage ebenfalls 
erlher lebhaft behandelt. Es wurde die Errichtung einer Zentralgenossen- 
schaftskasse und die Aufhebung der Rückzahlung der Grundsteuer- 
entschädigung beschlossen, außerdem wurde die Regierung ersucht 
den Bedarf an inländischen Produkten für Staatsbetriebe durch 
Ankauf bei den Produzenten zu decken und durch einen Notstands- 
tarif die Beschaffung künstlichen Düngers zu erleichtern. Beiden 
Wünschen kam die Regierung nach. Angenommen wurden ferner 
einige Novellen zur Gerichtsverfassung und zur Steuerordnung. 
Häufig wurden — teils im Kultusetat, teils gelegentlich einer 
Vorlage über die Ansiedlungsfrage — polnische und katholische Be- 
schwerden erörtert, die aber sämtlich nur von geringer, meist lokaler 
Bedeutung waren. Größeres Interesse wurde der Interpellation 
über den Prozeß Mellage entgegengebracht. 
Konfer- Von den einzelnen Parteien hat die konservative die größten 
hnter Erschütterungen durchlebt. Schon lange war ihre Zusammensetzung 
nicht mehr einheitlich. Neben den Altkonservativen, die mehr 
und mehr eine ausschließlich agrarische Partei geworden find, 
Streit standen die Christlich-Sozialen, die mit jenen in vielen Punkten 
übereinstimmten, in einigen aber, namentlich in der Beurteilung 
lic-So-der Umsturzvorlage eine andere Haltung einnahmen. Das Ver- 
zialen hältnis zwischen beiden Richtungen wurde schwieriger durch eine 
Abwandlung unter den Christlich-Sozialen. Wenn diese lange 
Zeit unter Führung des Hofpredigers a. D. Stöcker und des Pro- 
fessors Adolf Wagner im großen und ganzen auf dem Boden der 
konservativen Partei gestanden hatten, so machte sich seit einigen 
Jahren eine radikalere Richtung geltend, die, ohne sich einer der 
bestehenden politischen Parteien anzuschließen, zur Lösung der sozi- 
alen Frage bereit war, den Sozialdemokraten mehr entgegenzukommen 
als das ursprüngliche christlich-soziale Programm gestattete. Ihr 
Nau, Führer, Pastor Naumann in Frankfurt a. M., ein tief religiöser 
mann= und monarchisch gesinnter Mann von großer agitatorischer Begabung 
entwickelte als ihr Programm die Organisation des vierten Standes 
auf christlicher Grundlage, unbeschränkte Sonntagsruhe, Schaffung
	        
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