Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

104         Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 15.)
 
fährdet werden könnten. Was die Befürchtung vor den Einbruchsstellen 
für die fremde Konkurrenz betrifft, so will es mir scheinen, als hätten wir 
deren schon so viele, daß eine mehr oder weniger nicht von durchschlagender 
Bedeutung ist. Ueberdies kann dieser Einwand für den Osten der Monarchie 
überhaupt nicht in Betracht kommen. Ueberhaupt lehrt die Erfahrung, 
daß sich die Aussichten des Verkehrs schwer berechnen lassen. Die genauesten 
Berechnungen erweisen sich, wenn das Verkehrsmittel in Thätigkeit ist, in 
überraschender Weise unzutreffend. Welches Kopfschütteln hat z. B. die 
Bahn längs des Rheins und dann gar die zweite am rechten Rheinufer 
hervorgerufen und wie hat sich da der Verkehr auf den zwei Bahnen und 
dem Rhein in unerwarteter Weise entwickelt! Die geäußerten Besorgnisse 
vor neuen Einbruchsstellen erinnern mich an die Zeit des Beginns unserer 
Bahnen. Jeder damals projektierten Bahn wurde der Ruin vorausgesagt. 
Nachteile wurden vorausgesehen, die sich in keiner Weise verwirklicht haben. 
Ja, die abenteuerlichsten Besorgnisse wurden laut. In der Frage der 
Verkehrsentwickelung lassen sich, wie gesagt, keine sicheren Berechnungen 
anstellen. Ich glaube, daß der Nutzen, den unsere östlichen Provinzen vom 
Kanal ziehen werden, nicht zu unterschätzen ist. Wenn z. B. jetzt die 
Grubenhölzer von den östlichen Provinzen auf dem Seewege nach Rotterdam 
und von da aus nach dem Ruhrgebiet gebracht werden, so ist doch anzu- 
nehmen, daß es Produkte genug gibt, für die der bequemere und billigere 
Weg des Kanals zum Transport vom Osten nach dem Westen gewäht 
werden kann. Daß die Bedeutung des Mittellandkanals für den Binnen- 
verkehr selbst von schlesischer Seite nicht mehr abfällig, sondern eher sehr 
zustimmend beurteilt worden ist, geht aus einem Vortrage hervor, den der 
langjährige Vorsitzende der Breslauer Handelskammer wie des schlesischen 
Provinzialvereins für Fluß- und Kanalschiffahrt, Kommerzienrat Schoeller, 
im Oktober 1891 gehalten hat. Er sagte unter anderem: „Es muß hervor- 
gehoben werden, daß durch den Rhein-Elbekanal zur Verbindung der 
leistungsfähigen Ströme für den Binnenverkehr etwas geschaffen werden 
kann, wie kein zweites Land der Welt etwas Aehnliches aufzuweisen vermag. 
Da Preußen seine Hauptausdehnung von Westen nach Osten hat, so ist 
erklärlich, daß mit alleiniger Ausnahme der Oder die nichtpreußischen 
Ströme bei ihrem verhältnismäßig kurzen Lauf durch Preußen fast ebenso 
viel dem Auslande wie dem Inlande dienen, während die Ouerverbindung 
der großen Ströme von der Weichsel bis zum Rhein dem Binnenverkehr 
in hervorragender Weise zu gute kommen würde. Das preußische Herren- 
haus hat das Verdienst, bei den wiederholten Verhandlungen über den 
Dortmund-Emskanal die Herstellung des Mittellandkanals unentwegt im 
Auge behalten zu haben.“ Ferner sagt Schoeller: „Jedes Jahr, welches 
den Bau des Mittellandkanals hinausschiebt, ist ein Versäumnis in der 
weiteren Erstarkung Preußens.“ Da die Hauptgegnerschaft gegen den 
Mittellandkanal von Schlesien kommt, so ist diese schlesische Stimme nicht 
ohne Bedeutung, und es ist zu hoffen, daß die Opposition dieser Provinz 
einer ruhigen Auffassung weichen werde. Man hat im Laufe der Be- 
ratungen die Besorgnis geäußert, daß der aus dem Bau des Mittelland- 
kanals folgende Aufschwung der Industrie in den westlichen Landesteilen 
noch mehr Arbeiter aus dem Osten nach dem Westen ziehen und dadurch 
der Landwirtschaft weitere Nachteile zufügen werde. Auch fürchtet man, 
daß die Agglomeration großer Arbeitermassen im Westen — im Ruhr- 
gebiete — Gefahren mit sich bringt. Ich kann diesen Befürchtungen die 
Berechtigung nicht absprechen. Aber ich bestreite, daß diese Gefahren durch 
den Kanal vermehrt werden. Wir erleben seit den letzten zwanzig Jahren 
einen ungewöhnlichen Ausschwung der Industrie, welcher unseren Staat
	        
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