Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oktober 24.—28.) 155 
Preußen. Die Regierung thut nur, was für das Staatswohl ihr am 
besten dünkt. Die Regierung gibt nicht gerne schärferen Strafbestimmungen 
ihre Zustimmung, aber es herrscht teilweise ein Terrorismus, der bekämpft 
werden muß. 
24. Oktober. Abg. Schädler (Z.) erklärt die Haltung der Re- 
gierung für unverständlich. Der Entwurf sei allein der sozialdemokratischen 
Agitation nützlich, weil er ein Ausnahmegesetz und eine Bedrohung der 
Koalitionsfreiheit bedeute. Abg. Casselmann (lib), die Vorlage bedrohe 
die Koalitionsfreiheit nicht, sei aber Überflüssig und fehlerhaft. Das geltende 
Recht reiche aus. 
22. Oktober. (Mühlheim a. Rh.) Abg. Dr. Lieber über 
die Stellung des Zentrums zu den Ministern. 
Abg. Lieber knüpft an seine Rede vom 24. September an: „Ich 
habe in Mainz auf eine bestimmte Gefahr aufmerksam gemacht, der wir, 
die im Zentrum geeinten Katholiken, bei der Fortführung der parlamenta- 
rischen Verhandlungen ausgesetzt sein werden. Ich habe erklärt, mehr dar- 
über noch nicht sagen zu wollen, obgleich ich noch mehr auf dem Herzen 
hatte. Ich habe es für meine Pflicht gehalten, darauf aufmerksam zu 
machen, was gegen uns im Gang ist. Daraus hat man nun eine große 
Intrigue gegen den Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums, 
gegen den Finanzminister Dr. v. Miquel, gemacht. Daß Herr v. Miquel 
darin eine Intrigue gegen sich erblickt hat, nehme ich nicht an. Aber 
andere haben es geglaubt und da ist es gewiß angebracht, wenn ich sage: 
Niemandem mehr als uns kann es so vollkommen gleichgültig sein, wer 
jemals auf dem einen oder anderen Ministersessel in Preußen sitzt.“ 
In Mainz hatte Dr. Lieber u. a. erklärt: „Ich kann nicht alles 
sagen, was ich weiß, ich kann aber wohl sagen, daß es einen sehr einfluß- 
reichen Herrn im preußischen Staatsministerium gibt, der nichts sehnlicher 
wünscht, als das Zentrum aus seiner ausschlaggebenden Stellung zu ver- 
drängen, und der nichts mehr erhofft, als in der bevorstehenden Tagung 
des nur vertagten Reichstags gelegentlich der Zuchthausvorlage, der Militär- 
vorlage und was sonst noch, an der maßgebendsten Stelle des Reichs den 
Eindruck zu erwecken: Zwar haben wir Konservativen mit unnachahmlicher 
Kühnheit dir deinen Kanal verdorben, aber doch sind wir, wenn es darauf 
ankommt, die einzigen Stützen von Thron und Altar! Ich denke, ich habe 
mich deutlich genug ausgedrückt, der Herr wird mich verstehen, von dem 
ich rede." 
24. Oktober. (Preußen.) Zum Erzbischof von Köln wird 
der Bischof Simar von Paderborn gewählt. 
26. Oktober. Erschwerung des Telegraphierens infolge des 
südafrikanischen Krieges. 
Das Reichspostamt macht bekannt, daß Telegramme über das Kabel 
Aden-Sansibar zur Zeit nur in offener Sprache abgefaßt sein dürfen und 
der Militärzensur in Aden unterliegen. Zur Vermeidung von Beanstandungen 
wird empfohlen, Telegramme über Aden nach Afrika, insbesondere auch 
nach Deutsch-Ostafrika, bis auf weiteres in englischer Sprache abzufassen. 
28. Oktober. (Württemberg.) Bei der Reichstagsersatz- 
wahl im 5. Wahlkreise erhalten Geß (nl.) 6090, Brinzinger 4982, 
Schlegel (Soz.) 7929 Stimmen. In der Stichwahl wird Schlegel
	        
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