Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

158 as Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oktober 30.) 
An diesen Artikel und an die Rede des Kaisers in Hamburg (S. 151) 
knüpfen sich lebhafte Diskussionen über eine zu erwartende Flottenvorlage. 
Die mittelparteilichen und die nationalsozialen Stimmen erklären im all- 
gemeinen die Verstärkung für notwendig; die agrarischen und Zentrums- 
blätter äußern sich zurückhaltend, die der freisinnigen Volkspartei ablehnend. 
Die Agitation für die Verstärkung der Flotte, die nie aufgehört hatte, setzt 
überall mit neuer Kraft ein. Der Flottenverein breitet sich aus, in allen 
großen Städten werden Vorträge über die Aufgaben der deutschen Seemacht 
gehalten. An der Spitze steht die „Freie Vereinigung für deutsche Flotten- 
vorträge", die vornehmlich von Univerfitätslehrern begründet ist. 
30. Oktober. Die Bayerische Abgeordnetenkammer beschließt 
nach mehrtägiger Beratung einstimmig, einen Antrag Segitz (Soz.) 
auf Abänderung des Landtagswahlrechts an eine Kommission zu 
verweisen. — In der Debatte greifen die Liberalen das Zentrum 
wegen der Unterstützung der Sozialdemokraten bei den Landtags- 
wahlen scharf an. 
30. Oktober. (Straßburg.) Schluß der 25. Tagung des 
Landesausschusses. 
Diese Tagung war die längste, die der Landesausschuß bisher ab- 
gehalten; sie begann am 10. Januar 1898, dauerte also fast zwei Jahre. Es 
war eine verhältnismäßig arbeitsreiche Session, in der 56 Plenar- und 
200 Kommissionssitzungen abgehalten wurden. 27 Vorlagen wurden von 
der Regierung dem Hause unterbreitet; 22 von ihnen erhielten die Zu- 
stimmung, 5 blieben unerledigt. Von den Mitgliedern des Hauses wurden 
7 Anträge gestellt, nicht weniger als 177 Petitionen kamen aus dem Lande 
an den Landesausschuß. Eine Reihe von Vorlagen, die für das öffentliche 
Leben des Reichslandes von einschneidender Bedeutung waren, sind zur Er- 
ledigung gelangt. So wurden zunächst die noch aus französischer Zeit 
stammenden gesetzlichen Bestimmungen über die Presse abgeschafft und an 
ihrer Stelle das Reichspreßgesetz, allerdings mit einigen nicht unwesent- 
lichen Aenderungen, eingeführt. Zur Fortführung ihrer schon in den 
achtziger Jahren begonnenen Steuerreform hatte die Regierung ein Kapital- 
rentensteuergesetz eingebracht. Vom Landesausschuß wurde es aber nicht 
gebilligt, und er beschloß statt des Steuergesetzes ein Ermittelungsgesetz, 
durch das die Regierung den Auftrag erhielt, zu ermitteln, wie viel zins- 
tragendes Kapital im Lande sei. Auch in der Beamtengehaltsfrage blieb 
der Landesausschuß hinter der Vorlage der Regierung zurück. Die Regie- 
rung wollte die elsaß-lothringischen Beamten denen des Reiches und Preußens 
gleichstellen; der Landesausschuß machte an ihren Vorschlägen aber ganz 
bedeutende Abstriche, zum großen Verdruß der Beamten. Recht unglücklich 
war seine Haltung in der Schulfrage, wo er im Sommer den bekannten 
Beschluß faßte, eine Anzahl höherer Schulen aufzuheben. Dieser Beschluß 
hat im Lande eine außerordentlich heftige Opposition hervorgerufen, die 
noch immer anhält und eine Durchführung jenes unheilvollen Beschlusses 
hoffentlich verhindern wird. So bedeutsam diese einzelnen Vorlagen auch 
waren, sie gaben der verflossenen Session nicht ihr eigentliches Gepräge. 
Das geschah vielmehr durch die zahlreichen Arbeiten, die zur Einführung 
des Bürgerlichen Gesetzbuchs notwendig waren, und durch die die elsaß- 
lothringische Gesetzgebung mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch in Uebereinstim- 
mung gebracht werden sollte. Sie waren eine schwierige Arbeit, schwieriger
	        
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