Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

178 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 13.) 
Minorität in unserm Vaterlande zu befriedigen, hat mir seit langen Jahren 
Vorwürfe von meinen Freunden zugezogen. Man kann dabei aber nicht 
weiter gehen als das Staatsinteresse, als die Aufgabe der Regierung, den 
Frieden unter den Konfessionen zu erhalten, es zuläßt. In dieser Beziehung 
sind bestimmte Grenzen gezogen, die ein gewissenhafter Staatsmann nicht 
überschreiten darf. Ueber das Maß des Entgegenkommens gegen die Minder- 
heit kann man ja verschiedener Meinung sein, aber diese Grenze, daß nichts 
geschehen darf, was den Frieden unter den Konfessionen gefährdet, muß 
jeder Staatsmann innehalten, und ich glaube auch kaum, daß das Zentrum 
mehr wird verlangen können. Woher kommt also solche Haltung? Viel- 
leicht klärt er uns näher auf; ich weiß es nicht, aber ich werde mich in 
meiner politischen Haltung dadurch auch nicht im geringsten stören lassen. 
Ich werde ruhig meiner Ueberzeugung folgen und werde den Krieg nicht 
mit Krieg erwidern, weil viel größere vaterländische Interessen hier auf 
dem Spiele stehen als ein Zeitungskrieg und die Rede eines einzelnen Ab- 
geordneten. 
Abg. Dr. Lieber (Z.): Nun sprach der Minister von der in Mainz 
losgelassenen Rakete, von den Angriffen der Presse gegen ihn und fragte: 
woher plötzlich der Zorn des Abg. Lieber: Ich erkenne an, daß er in 
konfessionellen Fragen schon frühzeitig mit größter Objektivität gehandelt 
und stets die Eintracht und das gegenseitige Verständnis der Konfessionen 
gefördert hat, aber er hat das preußische Abgeordnetenhaus stets gegen die- 
jenige Finanzpolitik im Reiche mobil zu machen gesucht, die das Zentrum 
wesentlich mit ins Leben gerufen hat: ein verhängnisvolles Thun, die Ur- 
sache zunehmender Reichsverdrossenheit, namentlich in Süddeutschland, durch 
systematische Erweckung und Hebung des preußischen Partikularismus gegen 
das Reich. Der bayerische und württembergische Partikularismus kann 
keine bessere Rechtfertigung finden. Der Minister deutete heute an, daß 
meine politischen Freunde zu reichsfreundlich und zu wenig freundlich für 
die Einzelstaaten seien. Ein derartiger Feldzug im preußischen Abgeord- 
netenhause gegen das Deutsche Reich, der unter der Aegide des Finanz- 
ministers geführt worden ist, mußte nach meiner Meinung zum größten 
Nachteil für das Reich ausgehen und die partikularistischen Gegensätze in 
Deutschland nicht abschwächen. Es gab eine Zeit, in der nach schwerer 
Mühe durch die Annahme der Deckungsparagraphen seitens mehrerer Par- 
teien das Flottengesetz endgültig gesichert schien, als es mit Schwierigkeiten 
bepackt wurde, die an diese Paragraphen und ihre Rückwirkung auf die 
Finanzen Preußens anknüpften, die die endgültige Annahme derselben seitens 
des Bundesrats, wenigstens seitens der preußischen Stimmen, in ernste 
Gefahr zu bringen drohten, so daß sogar das Verbleiben des Staatssekretärs 
im Marineamt fraglich wurde. Minister v. Miquel war an dieser Schwie- 
rigkeit nicht unschuldig. Ueber das Friedenspräsenzstärke-Gesetz von 1898 
war in der Budgetkommission nach langer Mühe eine Verständigung ge- 
funden, die alle Aussicht auf Genehmigung hatte. Urplötzlich wurde sie 
mit dem Stigma der Unannehmbarkeit belegt. Man konnte die Auflösung 
des Reichstags erwarten. Wiederum hatte Herr v. Miquel die Schwierigkeiten 
verursacht oder doch mitverursacht. Das Zustandekommen der Kanalvorlage 
glaubte ich in redlichem Zusammenwirken mit ihm zu fördern. Zwei Tage 
nach ihrem Scheitern, unmittelbar nachdem ich das mir hinterbrachte Wort 
aus seinem Munde vernahm, erhielt ich die Mitteilung, daß er den ersten 
Berichterstatter, der ihm am Wege begegnete, mit der Parole angelassen 
habe: „Das Zentrum ist am Falle der Kanalvorlage schuld!“ Nachdem ich 
dies gehört, glaubte ich allerdings, meine politische Freundschaft mit ihm 
einer Revision unterziehen zu müssen. 

	        
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