Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 14.) 179 
Finanzminister v. Miquel: Alles, was Herr Abg. Lieber mir vor- 
wirft, ist falsch und erklärt auch seinen plötzlichen Umschwung nicht, denn 
alle diese Dinge gehen weiter zurück. Es ist unmöglich, daß sich von heute 
auf morgen seine Anschauungen verändert haben. Es ist absolut von A 
bis Z falsch, daß ich die Reichsfinanzpolitik bekämpft habe. Im Gegenteil, 
ich halte es für ein großes Verdienst des Abgeordneten Lieber, was er in 
Bezug auf die Reichsfinanzpolitik, insbesondere auch durch Einführung der 
Schuldentilgung gethan hat. Diese Reform ging mir immer nicht weit 
genug, ich wollte eine noch organischere, auf Gesetz beruhende Reform des 
Reichsfinanzwesens, und ich will sie noch heute, wie sie auch alle Bundes- 
staaten zu ihrer eigenen Erhaltung wünschen müssen. Aber auch gegen 
diesen Anfang habe ich mich nie erklärt, im Gegenteil — es war mir 
durchaus erfreulich, daß man wenigstens den Anfang machte. Gegen die 
Art der Deckung beim Flottengesetz wurde im preußischen Staatsministerium 
kein Widerspruch erhoben, weil sie das Zustandekommen des Flotten- 
gesetzes erleichtern würde. Daß ich bei der Friedenspräsenzstärke Schwierig- 
keiten gemacht hätte, die fast das ganze Gesetz zu Fall gebracht hätten, ist 
mir vollkommen unbekannt; ich hätte vielmehr gewünscht, die volle Friedens- 
präsenzstärke wäre bewilligt worden. Abg. Lieber sagte gestern, es sei 
nicht richtig, diese neue Flottenforderungen durch Anleihen aufzubringen, 
man müßte wenigstens einen Teil auf das Ordinarium übernehmen. Er 
weiß, wie sehr ich gegen unnötige Anleihen bin. Ich erblicke das finan- 
zielle Verderben fast aller Staaten darin, daß sie Ausgaben, die aus 
laufenden Mitteln gedeckt werden müssen, der Zukunft zuweisen und durch 
Anleihen decken, aber neue Schiffsbauten sind zwar nicht direkt, aber in- 
direkt im höchsten Grade produktiv, ebenso wie die Eisenbahnen, die nichts 
weiter bedeuten als Meliorationsbauten (Widerspruch), wo man auf eine 
Rente mit Sicherheit nicht rechnen kann. Es gibt hundert andere Fälle, 
wo man vollständig berechtigt ist, derartige neue Ausgaben für neue Zwecke 
durch Anleihen zu decken. Eine feste Schuldentilgung und Abschreibung 
ist notwendig, aber auch sehr wohl möglich. Neue Schiffe aus laufenden 
jährlichen Mitteln zu bauen, halte ich für vollständig unmöglich. Wenn 
er dann daraus, daß ich einmal vor vielen Jahren gesagt habe, die gegen- 
wärtigen Parteien seien in ihrer gegenwärtigen Konstruktion überlebt, ein 
vergangener Zustand, herzuleiten wagt, daß ich Sr. Majestät gegenüber 
das deutsche Volk verdächtigt habe, so will ich eine Kritik daran nicht 
weiter knüpfen. Ich habe mehr Respekt vor der Ehre eines Mitmenschen, 
als daß ich auf solche Andeutung hin eine solche Beschuldigung aus- 
sprechen würde. 
Abg. Sattler (nl.) vermißt in der Antwort des Ministers eine 
Erwiderung auf die Behauptung Liebers, Miquel habe dem Zentrum das 
Scheitern der Kanalvorlage Schuld gegeben. Dem Mißtrauensvotum der 
Konservativen gegen den Reichskanzler schließt sich die nationalliberale 
Partei nicht an. Die Flottenvermehrung sei notwendig und die ganze 
Frage populär. Abg. v. Kardorff (RP.) tadelt die neueste Wendung 
in der Sozialpoliik der Regierung und polemisiert gegen die preußische Re- 
gierung wegen ihrer Kanalpläne und der Beamtenmaßregelungen. 
14. Dezember. Abg. Richter (frs. Vp.) betont das Recht des Reichs- 
tags, Reden des Kaisers zu besprechen. Wenn der Monarch derart von 
seiner Redefreiheit Gebrauch macht, so ist es unsere Pflicht, von unserer 
Redefreiheit Gebrauch zu machen, um darauf zu erwidern; wie du mir, 
so ich dir, wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus. 
Dazu war der Reichstag in jener Rede beschuldigt, in den ersten acht 
Jahren der Regierung des gegenwärtigen Kaisers die Verstärkung der 
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