Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 14.) 181 
wollte oder nicht wollte. Redner polemisiert gegen die Marineverstärkung, 
gegen die alle anderen Bedürfnisse zurückgestellt würden. Die Kolonial- 
politik verlange große Kosten ohne Nutzen, der beste Teil der Erde sei 
längst vergeben. Die Zukunft Deutschlands liegt nicht auf dem Wasser, 
sondern im deutschen Volke, vor allem in der Heimat, nicht bloß zu Wasser, 
sondern auch zu Lande. Die Auffassung ist falsch, daß eine Volksver- 
tretung die Aufgabe habe, einig und geschlossen hinter den Fürsten zu 
stehen. Das ist ein Verwechseln der Aufgabe einer Volksvertretung und 
der Aufgabe des Leibregiments. (Heiterkeit und Beifall.) Auch das Be- 
wußtsein der Verantwortung vor Gott kann vor Fehltritten nicht schützen, 
und auch diese Verantwortlichkeit ist keine andere, als die jeder andere auch 
hat. Politische Parteien sind eine Notwendigkeit bei der Verschiedenheit 
der Ansichten. Daß in nationalen Fragen die Parteien schweigen müßten, 
ist nicht richtig. Soll der Reichstag in Fragen des Heeres und der 
Marine auf seine Selbständigkeit verzichten und nur Vorspann für die 
Regierung sein? Der Wettstreit der verschiedenen Meinungen gereicht dem 
Ganzen zum Besten. Für die Flottenvorlage wurde alles in Bewegung 
gesetzt vom Oberpräsidenten und Reichsbankpräsidenten herab bis zum 
Eisenbahnkellner. In einem Flugblatt, daß vom Fürsten zu Wied und 
von Schweinburg unterzeichnet ist, heißt es: Unser schwimmendes Material, 
das die Kriegsflotte trägt, ist zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig, 
und in einer gewissermaßen hebräischen Redeweise wird damit gedroht, daß 
das, was jetzt versäumt würde, an Kindern und Kindeskindern sich bis 
ins dritte und vierte Glied rächen würde. Andere Flugblätter tragen stärker 
auf. Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, wie verderblich ein solches 
Hineinziehen der Person des Kaisers in den Kampf ist. Je öfter man dies 
thut, desto weniger wird es ausbleiben, daß der Appell der Fürsten nicht 
die Wirkung erzielt, die man beabsichtigt, sondern daß der Appell mit 
einer Niederlage endet, die auch eine Niederlage ist, was sonst nicht der 
Fall wäre, für den Fürsten selbst. (Zustimmung links.) Es war auch 
napoleonische Taktik, durch Plebiszite nach außen hin sich der Zustimmung 
des französischen Volks zu versichern; aber nach der ersten unglücklichen 
Schlacht brach dieser Thron zusammen. Gestern ist der Regierung von rechts 
eine Absage erteilt, ein Mißtrauen erklärt worden, wie es unzweideutiger 
nicht sein kann. Die Politik der gegenwärtigen Regierung ist zu impulsiv, 
zu sprunghaft. zu sehr von plötzlichen Eingebungen beherrscht, von zu un- 
selbständigen Ministern geleitet, als daß ich ihr etwas anderes als ein 
entschiedenes Mißtrauen entgegensetzen könnte. Wir sind dem Fürsten 
Bismarck in der inneren Politik entschieden entgegengetreten, aber die aus- 
wärtige Politik, wie sie nach dem Stichwort der Weltpolitik zurechtgelegt 
wird und in der Marinevorlage und den begleitenden Kundgebungen her- 
vortritt, ist, ich will nicht sagen zu phantastisch, aber zu phantasievoll, um 
der Regierung gegenwärtig Vertrauen entgegenbringen zu können. (Leb- 
hafter, wiederholter Beifall links; Zischen rechts.) 
Staatssekretär Tirpitz: Herr Abg. Richter hat gesagt, ich hätte vor 
zwei Jahren in keiner Weise angedeutet, daß das Flottengesetz von 1898 
der Abschluß unsrer Flotte nicht sein könne. Schon in der Begründung 
des Gesetzes ist darauf hingewiesen worden, daß das Flottengesetz nur mit 
den gegenwärtigen Interessen und gegenwärtigen Gefahren rechne. Ich 
habe damals gesagt, die Auslandsschiffe seien nach den heutigen See-Inter- 
essen berechnet. Wir konnten damals thatsächlich nicht bemessen, daß unsre 
See-Interessen sich so vermehren würden, wie es geschehen ist. Ich habe 
auch keinen Zweifel darüber gelassen, daß wir mit den Linienschiffen, die 
uns das Gesetz gegeben, nicht gegen jede Seite einen Verteidigungskrieg zu
	        
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