Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

12    Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jannar 12./13.)
 
Mangel enthalten. Bei der großen Zunahme des Heereskontingents müssen 
natürlich auch die schlechten Elemente des Volkes in das Heer gelangen. 
Wenn auch von den 26000 Mann mehr nur 7800 Mann auf die Feld- 
artillerie entfallen, so liegt darin doch der Schwerpunkt der Vorlage. Die 
Organisationsfrage und die Vermehrung der Batterien müssen voneinander 
geschieden werden. Die erste Frage ist eine durchaus technische, deren Mehr- 
kosten auch nicht so erheblich sind; auch die Frage von der Zuteilung der 
Artillerie zu den Divisionen statt zu den Armeekorps ist durchaus technisch 
und verursacht nicht erhebliche Mehrkosten. Anders liegt es mit der Ver- 
mehrung der Geschütze; davon hat niemand eine Ahnung gehabt. Selbst 
die militärischen Sachverständigen haben im „Militärwochenblatt“ derartige 
Forderungen nicht gestellt. Wenn man mehr Geschütze für notwendig hält, 
warum vermindert man die Formationen nicht, die ihre Bedeutung ver- 
loren haben, z. B. die Zahl der reitenden Batterien, auf deren erhebliche 
Verminderung man allseitig gerechnet hatte? Hier sollte doch nicht die 
Tradition entscheiden. Die Motive knüpfen an die Vermehrung der Kaval- 
lerie allgemeine Betrachtungen über die Notwendigkeit der Kavallerie; aber 
was angeführt ist, beweist gar nichts oder nicht viel, denn wenn die 
66000 Mann Kavallerie nicht ausreichen, dann macht es doch nicht viel 
aus, ob noch 1800 Pferde dazukommen. Der Sicherheitsdienst der Auf- 
klärung soll schwieriger geworden sein, aber die früher notwendigen Massen- 
wirkungen der Kavallerieattake haben jetzt gegenüber dem Schnellfeuer keine 
Bedeutung mehr. Eine gewisse Poesie hat früher den Reiter umschwebt, 
eine große Kavalleriedivision über das Feld dahinstürmend ist allerdings 
ein hübscher Anblick. Ich kann mir die Liebhaberei gewisser hoher Herren 
erklären, aber bei dem jetzigen Schnellfeuer haben solche Attaken doch keine 
Bedeutung. Für den Grenzschutz sind allerlei Vorbereitungen getroffen. 
Wenn wirklich ein russischer Kavallerie-Einbruch stattfinden sollte, sehr weit 
kommen wird er ins Innere des Landes nicht und die zehn Schwadronen 
mehr bedeuten da auch nichts, man könnte höchstens mehr Kavallerie in die 
Ostprovinzen verlegen. Graf Caprivi hat einmal gespottet über das, was 
man als russische Grenzprovinzen betrachtet; er meinte, ein ähnlicher Bezirk 
würde in Deutschland bis Koblenz reichen und innerhalb dieses Rayons 
läge viel mehr deutsches Militär als in dem russischen Bezirke. . .  . Viele 
Soldaten würden durch Abkommandierungen zu nichtmilitärischen Zwecken 
verwendet. Besonders bedenklich ist das Burschenwesen. Ich wohne in 
der Nähe der Artillerie= und Ingenieurschule, wo man das Treiben der 
Burschen sehen kann. Die Annehmlichkeiten des Burschenlebens gegenüber 
dem Leben des aktiven Soldaten sind derartig, daß man wirklich sagen 
kann: Frei ist der Bursch!  .  .  .  . Die Unsicherheit über die Dauer der 
Dienstzeit müsse aufhören. Wir sind uns schlüssig geworden, unseren An- 
trag auf dauernde Festlegung der zweijährigen Dienstzeit einzubringen. 
Daß man das Aushilfspersonal aus dem dritten Jahrgange bei der zwei- 
jährigen Dienstzeit nicht haben würde, ist keine neue Erfahrung, das wußte 
man schon bei der Einführung derselben. Man spricht von der Leutenot 
auf dem platten Lande; man sieht sich nach Italienern u. s. w. um. Die 
Mannschaften werden eben der Arbeit auf dem Lande durch den verstärkten 
Heeresdienst entzogen. Wenn man die Verhältnisse auf dem Lande durch 
Industrialisierung des Ostens heben will, dann sollte man nicht den Geld- 
markt für unproduktive Anlagen so erheblich in Anspruch nehmen. Die 
Finanzlage ist ja allerdings im Reiche und in Preußen eine günstige. Aber 
der preußische Finanzminister warnt dringend davor, daraufhin neue Aus- 
gaben zu bewilligen; denn nur ein wohlhabendes Land mit guten Finanzen 
wird auch stark sein.