Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

230 Frankreich. (Jannar 23.) 
hatte jemals Kenntnis. Ferner soll ein Brief eines auswärtigen Souveräns 
an Dreyfus existiert haben. Auch der ist ebensowenig im Ministerium be- 
kannt oder vorhanden. Man fragt schließlich, ob solche Briefe fabriziert 
wurden. Ich weiß davon nichts und im Ministerium des Auswärtigen 
weiß niemand etwas. Sollten je solche Tinge gefälscht worden sein, so 
hätte der Urheber sicher sich gehütet, sie zum Dossier im Ministerium des 
Aeußern zu geben, wo man sofort durch Vergleichung ihren Charakter hätte 
feststellen können (Heiterkeit). 
Méline erklärt: Wenn ich die Fälschung Henrys gekannt hätte, 
würde ich meine Pflicht gethan haben. Weder ich noch ein anderer Mi- 
nister kannten diese Fälschung und wenn Rambaud eiwas anderes sagte, 
so liegt ein Mißverständnis vor. Ich beglückwünsche mich dazu, die Re- 
vision nicht eingeleitet zu haben; denn ich hätte meine Pflicht verletzt, das 
Gesetz zu schützen. (Stürmischer Beifall rechts und im Centrum, Lärm links.) 
Ich verlangte, wenn man die Revision erstrebte, das Vorbringen einer 
neuen Thatsache. Man brachte sie nicht. Seitdem änderten sich die Um- 
stände! Gibt's einen Unschuldigen, so spreche man ihn frei. Geschah ein 
Rechtsirrtum, so mache man ihn gut! (Lebhafte Zwischenrufe links.) 
Méline fährt fort: Das ist die Meinung des ganzen Landes und wer das 
leugnet, verleumdet Frankreich vor dem Ausland. Aber für viele war die 
Dreyfus-Affaire nur ein Vorwand, um die Armee anzugreifen und in den 
Kot zu ziehen. (Lebhafter Beifall rechts und in der Mitte, Widerspruch 
links. Der Lärm erneuert sich zwanzig Minuten hindurch.) Schließlich 
gelingt es Meline, Ausschnitte aus Blättern zu verlesen, die gegen die 
Armee gerichtet find. (Frankf. Ztg.) 
23. Januar. (Kammer.) Debatte über das Verhältnis zu 
England. Madagaskar, Faschoda. 
Ribot tadelt die Sprache des englischen Blaubuchs über Mada- 
gaskar. Die junge Diplomatie verspricht viel wie immer die Jugend, ich 
ziehe die alte vor, die sagte, Höflichkeit könne nie übertrieben werden. 
In Madagaskar war England die einzige Macht, die Frankreichs Annexion 
nicht unbedingt zustimmen wollte. Frankreich besitzt unbestritten das Zoll- 
recht, aber es darf es nicht mißbräuchlich anwenden. Frankreich war 
vor Jahren allein gegenüber dem Dreibund. Seitdem verschob sich das 
Machverhältnis Europas. 1891 unterzeichneten wir die Konventionen, die 
uns die Stütze Rußlands sicherten. Seitdem näherte sich Rußland Oester- 
reich, Jtalien und Frankreich, das beweist, daß der Dreibund nicht mehr 
ist, was er war, Frankreich besitzt, was es wollte, ein großes Kolonialreich. 
Sein Wunsch bleibt, dieses zu schützen mit einer starken Marine. Vergessen 
wir über diesen großen einigenden Fragen die innern trennenden. (Lebhafter 
allgemeiner Beifall.) 
Der Minister des Aeußern Delcassé verweist zunächst auf die 
Gelbbücher, die ein Zeugnis für die Arbeit der französischen Diplomatie 
ablegen. Der Regierung wurden im Verlauf der Ereignisse widersprechende 
Absichten zugeschrieben, ehe Einigkeit über ihre redlichen Absichten herrschte. 
Glücklicherweise trat diese Einigkeit schließlich doch ein. Als die Kammer 
das letzte Jahr schloß, begann eben der spanisch-amerikanische Krieg. Die 
spanische Monarchie suchte die Vermittelung unserer Republik. Das ist ein 
Beweis, daß unsere Freundschaft gesucht ist. Unsere Vermittelung endete 
mit der Herstellung des Friedens. (Beifall.) Dann kam das Cirkular 
Murawjews.Die ganze Welt begrüßte diesen bescheidensten Vorschlag, den 
Rüstungen der Völker ein Ziel zu setzen, Frankreichs Sympathien waren 
von vornherein sicher einem Wunsch des Kaisers Nikolaus. Frankreich
	        
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