Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

Srankreih. (August 7.—24.) 241 
„Der Regierungskommissär beim Kriegsgericht zu Rennes ließ mich 
wissen, daß er beabsichtige, Sie im Prozeß Dreyfus als Zeuge aufzurufen. 
Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß ich Ihnen gestatte, dem Rufe 
Folge zu leisten und vor dem Kriegsgericht ohne Rücksicht auf das Berufs- 
geheimnis auszusagen. Immerhin werden Sie sich enthalten müssen, in 
Ihrer Aussage solche Personen mit Namen zu nennen, deren Erwähnung 
diplomatische Verwicklungen herbeiführen oder die Nützlichkeit unseres Nach- 
richtendienstes beeinträchtigen könnte. Ich bitte Sie, mir den Empfang 
dieses Schreibens anzuzeigen. Galliffet.“ 
7. August. (Rennes.) Eröffnung der Revision des Dreyfus- 
prozesses. Es herrscht großer Andrang. Umfassende Vorsichts- 
maßregeln gegen etwaige Unruhen sind getroffen. 
12. August. (Paris.) Verhaftungen von Monarchisten und 
Nationalisten. Belagerung Gucrins. 
Die Regierung nimmt bei den Führern der monarchistischen und 
plebiszitären Parteien Haussuchungen vor und verhaftet viele von ihnen, 
darunter Déroulede, unter der Anklage des Hochverrats. Der Führer 
der Antisemiten Guêrin verschanzt sich im Klublokal der Antisemiten in 
der Rue Chabrol und droht auf die Polizisten zu schießen. Da die Re- 
gierung das Leben der Polizisten nicht aufs Spiel setzen will, verzichtet 
sie auf gewaltsames Eindringen, um ihn auszuhungern. Gucérin ergiebt 
sich erst am 19. September. So lange wird sein Haus bewacht. — Die 
Verhafteten werden vor den Staatsgerichtshof verwiesen. 
14. August. (Rennes.) Der Verteidiger von Dreyfus, 
Advokat Labori, wird durch einen Schuß schwer verwundet. 
20. August. (Paris.) Große Zusammenstöße von Anarchisten 
und Sozialisten mit der Polizei, wobei an 400 Personen verwundet 
werden. 
24. August. (Rennes.) General Gonse erklärt im Prozeß 
über den Betrieb der Spionage in Frankreich: 
„Gegenüber einer Botschaft in Paris (es ist die deutsche) gab es 
eine Wohnung, zu der wir Zugang hatten. Darunter hatten die Attaschees 
dieser Botschaft die Zimmer des Erdgeschosses gemietet, wo die Junggesellen 
unter ihnen frühstückten. Die Pförtnerin besorgte die Küche für diese Herren. 
Es waren zwei Räume, der eine diente als Eßzimmer, der andere als Rauch- 
zimmer, wo man auch den Kaffee einnahm. Der Oberst Picquart ließ in 
dem darüber gelegenen Zimmer Vorrichtungen anbringen, ließ im Kamin 
Schallhörner befestigen und ein Möbel aufstellen, von dem aus man sich 
dieser Schallhörner, die den Schall in dem Kamin auffingen, bedienen konnte. 
Er setzte dann in das Zimmer einen seiner Agenten, den ich nicht kannte, 
und dieser Agent belauschte alle Tage die Unterhaltung und erstattete abends 
7 Uhr Bericht. Das hat, ich weiß nicht wie lange, gedauert. Ich frage, 
ob derartige Schritte gegenüber Personen, die den Botschaften angehören, 
der Regel entsprechen und ob man so etwas thun darf, ohne seinen Vor- 
gesetzten Rechenschaft abzulegen.“ — Oberstleutnant Picquart hat diese 
Aussage des Generals Gonse an sich nicht bestritten, sondern nur gesagt, 
daß sein Vorgänger (Sandherr) das obere Stockwerk gemietet und einen 
vollständigen Dienst dort eingerichtet hatte. Vorsitzender: Das entkräftet 
nicht die Aussage des Generals, daß das Haus mit jenen Vorrichtungen 
Europäischer Geschichtskalender. Bd. XI. 16
	        
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