Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

Italien. (November. Dezember.) 253 
wieder aufgenommen und mit Hingebung fortgesetzt werden, damit die heute 
beginnende Tagung reich an nutzbringenden Ereignissen sei. Die Bevöl= 
kerung des Landes erwartet vertrauensvoll von unsern staatlichen Einrich- 
tungen Verbesserung ihrer Lage. Groß ist darum die Verantwortung des 
Parlaments und der Regierung gegenüber der Nation. Es ist möglich, daß 
Regierung und Volksvertretung verschiedene Ansichten und Bestrebungen 
haben, die sich einander bekämpfen können, aber das Endziel muß einzig 
und allein das Wohl des Vaterlands sein. Es werde kein neues Arbeits- 
programm vorgelegt werden, da die letzte Tagung der neuen Tagung eine 
große Anzahl von Vorlagen übrig gelassen habe, welche der Erledigung 
harren. Indessen werden dem Parlament unverzüglich einige Maßnahmen 
unterbreitet werden, welche die Abschaffung des Zwangswohnsitzes (domi- 
cilio coatto) bezwecken, und andere, welche auf die Abänderung einiger 
Steuergesetze in der Weise wirken sollen, daß unnötige Härten beseitigt und 
die Betriebe der kleinen Steuerzahler wenn möglich von dem vollen Drucke 
der Steuern befreit werden. Diese Vorlage möge das Parlament mit der 
erforderlichen Sorgfalt prüfen, ohne jedoch dabei zu vergessen, daß es gegen- 
wärtig vor allem notwendig ist, die Verwaltung wieder in ihre regelmäßigen 
Bahnen durch schnellere Erledigung des Budgets hineinzulenken. 
November. Dezember. (Mailand.) Prozeß Notarbartolo. 
Die Maffia. 
Die „Allgem. Zeitung“ schreibt über die Entstehung des Prozesses: 
Als gegen Ende des Jahres 1892 die Bankskandale in Rom ihre ersten 
Schatten vorauswarfen, forderte der Ministerpräsident Giolitti von den 
Direktionen des Banco di Napoli und des Banco di Sicilia wahrheits- 
getreue Berichte über die Verhältnisse dieser Geldinstitute. An der Spitze 
der Sicilianischen Bank stand seit kurzem der frühere Bürgermeister von 
Palermo, Senator Baron Notarhbartolo. Dieser, ein strenger und rechtlicher 
Mann, legte wahrheitsgemäß in seinem Bericht den Finger auf alle die 
Wunden, an denen das vornehme sizilianische Bankinstitut infolge jahrzehnte- 
langer Mißwirtschaft krankte und nannte auch rücksichtslos die Schuldigen 
mit Namen. Das Aufsehen, daß der Bericht im Ministerium machte, war 
so, daß Notarbartolo zu mündlicher Erweiterung seiner Aussagen nach Rom 
berufen wurde. Er nahm Gelegenheit, in Palermo seinen Freunden zu 
versichern, er werde in seinen Aussagen rücksichtslos sein. Am Abend des 
1. Februar 1893 reiste er von seinem Landgute Causo nach Palermo ab, 
um sich nach Rom einzuschiffen. Er traf aber nicht in Palermo ein, hin- 
gegen fand man in der Nacht bei der Station Albavilla am Bahndamm 
seinen von Dolchstößen durchbohrten Leichnam. Sofort erhob sich die Stimme 
der öffentlichen Meinung in Sicilien und bezeichnete die einflußreichsten 
Führer der Maffia, die in hohen Stellungen befindlich, fast alle von No- 
tarbartolo's Aussagen zu fürchten hatten, als die Anstifter des Mordes. 
Als die Vollstrecker des geheimnisvollen Todesurteils wurden zwei Bahn- 
beamte verhaftet, weil ohne deren Mithülfe auf der wenig befahrenen Strecke 
Niemand hätte das Coupé Notarbartolo's betreten oder verlassen können. 
Man machte zunächst den Versuch, die Angeklagten vor ein sizilianisches 
Schwurgericht zu verweisen, aber da aus Furcht vor der Maffia die Zeugen 
alle nichts gesehen haben wollten, mußte man den Prozeß nach Turin ver- 
legen. Auch hier gelang es aber nicht, die Angeklagten zu überführen, 
weil man immer den Hauptwert auf die Ermittelung zweier Individuen 
legte, die nach Ausfage der beiden Bahnbeamten das Coupé benutzt hatten, 
ohne daß ihre Billets kontroliert worden wären, wie der Kontroleur sagte, 
aus Vergeßlichkeit. So mußte 1895 das Verfahren eingestellt werden. Erst
	        
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