Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

Belgien. (Juni 30. — August 9.) 261 
gemacht; es sei die Pflicht der Behörden, dafür zu sorgen, daß die Ordnung 
respektiert wird; die Regierung werde ihre Pflicht thun. — Nach überaus 
heftiger Diskussion wird ein Tadelsantrag gegen die Regierung mit 87 
gegen 31 Stimmen abgelehnt und die Aufhebung der Sitzung durch Singen 
und Pfeifen der Sozialisten erzwungen. 
Nach der Sitzung drängt sich eine ungeheuere Volksmenge unter 
Zührung der sozialistischen Abgeordneten nach dem kgl. Palais und kann 
nur durch ein großes Polizeiaufgebot zurückgehalten werden. 
30. Juni. (Brüssel.) In der Kammer erklärt der Minister- 
präsident, daß die Regierung ihren Wahlreformentwurf modifizieren 
wolle. — Der Sozialistenführer Vandervelde ermahnt daher die 
Volksmasse zur Ruhe, da die Lösung der Krisis bevorstehe. 
1. Juli. (Brüssel.) Die Bürgermeister von Brüssel, Ant- 
werpen, Lüttich und Gent werden vom König empfangen und er- 
klären, sie könnten nicht mehr für die Aufrechterhaltung der Ord- 
nung einstehen, wenn das Ministerium die Wahlvorlage nicht 
zurückziehe. 
4. Juli. (Kammer.) Erklärung über die Reform des 
Wahlrechts. 
Ministerpräsident Vandenpeerebom erklärt, daß die Regierung auf 
das lebhafteste zu einer Versöhnung und Beruhigung zu gelangen wünsche. 
Mehrere Abgeordnete hätten neue Wahlvorschläge angekündigt. Die 
Regierung willige ein, dieselben in Empfang zu nehmen und sie einer 
Kommission, in welcher alle Parteien vertreten sein würden, zur Prüfung 
zu unterbreiten. Er bitte diejenigen Mitglieder, welche Vorschläge zu 
machen hätten, dies bald zu thun. Die Regierung sei bereit, zu der ge- 
wünschten Verständigung zu gelangen. — Diese Erklärung findet eine 
günstige Aufnahme. — Die Parteien der Linken veröffentlichen ein Manifest, 
worin es heißt, daß die Parteien, nachdem sie von der heutigen Erklärung 
der Regierung, die die Zurückziehung der Regierungsvorlage bedeute, 
Kenntnis genommen, sich verpflichten, einig zu bleiben, damit keine Wahl- 
reform zugelassen werde, ehe das Land befragt sei. Das Manifest ist von 
allen liberalen und sozialistischen Abgeordneten unterzeichnet. 
31. Juli. (Brüssel.) Die zur Prüfung der Wahlreform- 
entwürfe gewählte Kammerkommission lehnt alle Vorschläge, auch 
die der Regierung, ab. 
1. August. Das Ministerium gibt seine Entlassung anläßlich 
der Ablehnung seiner Wahlvorlage. 
5. August. (Brüssel.) Es wird ein neues Ministerium 
gebildet unter dem Vorsitz von Smet de Naeyer. 
9. August. Die Regierung bringt eine neue Wahlreform- 
vorlage ein. 
Sie enthält in der Hauptsache folgende Bestimmungen: 1. Das 
Proportionalwahlsystem oder die Vertretung der Minderheiten, wird auf 
sämtliche Kreise des Landes ausgedehnt. Das erfordert eine einschneidende
	        
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