Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

Rußland. (Januar 12. Mitte.) 271 
12. Januar. Reichsbudget für 1899. 
Im Reichsbudget für 1899 beziffern sich die ordentlichen Einnahmen 
auf 1469 128 203 Rubel, die außerordentlichen Einnahmen auf 4 Millionen, 
die Einnahmen aus den freien Barbeständen des Reichsschatzes auf 98 604443. 
Die ordentlichen Ausgaben betrugen 1 462659 233, die außerordentlichen 
109073413. Die ordentlichen Einnahmen übersteigen demnach die ordent- 
lichen Ausgaben um 6468 970 Rubel. Verglichen mit dem Vorjahre er- 
geben die ordentlichen Einnahmen des diesjährigen Budgets mehr 104669 986, 
die ordentlichen Ausgaben mehr 112574020. Das Budget des Kriegs- 
ministeriums ist um 43, das der Marine um 16 Millionen gegen das Vor- 
jahr gewachsen. 
Mitte Januar. Finanzminister Witte richtet einen Rechen- 
schaftsbericht an den Zaren, der die Lage des Bauernstandes be- 
spricht. Andere Berichte. 
Es heißt in Wittes Bericht, daß die traurige wirtschaftliche Lage 
des Bauerntums den Staatshaushalt so stark belaste, daß im abgelaufenen 
Jahre zur Verpflegung der Notleidenden im Hungergebiete allein ein Be- 
trag von 35 Millionen Rubel angewiesen werden mußte. Die Quelle der 
fortschreitenden Verarmung des russischen Bauerntums erblickt Witte in der 
Unwissenheit und Rechtlosigkeit desselben. Der Finanzminister erklärt denn 
auch auf das entschiedenste, daß nur die Verbreitung von Bildung unter 
den Bauern und die Einräumung von Rechten an dieselben die russische 
Volkswirtschaft ihrer Krise entreißen könnten. Der Bericht schließt mit 
folgenden Worten: „Jetzt, wo die Grundsätze der Befreiungsreform bereits 
verwirklicht wurden, eröffnet sich die Möglichkeit, die unserer Generation 
hinterlassene Aufgabe der endgültigen Regelung der sozialen und ökonomi- 
schen Lage der Bauern zu lösen. Die liebreiche Fürsorge Eurer Majestät 
um die friedliche Wohlfahrt Rußlands und Ihre herzliche Teilnahme an 
der Not des Volkes gewähren die Zuversicht, daß Gott Ihre Regierung 
durch die große Arbeit zum Wohle des ganzen russischen Volkes glorreich 
machen möge. 
Anfangs Februar schenkt der Zar der Gesellschaft vom Roten 
Kreuz 1 Million Rubel zur Linderung der Hungersnot in der ländlichen 
Bevölkerung. 
In den nächsten Monaten veröffentlichen die Zeitungen trübe Be- 
richte über die Hungersnot, die beständig zunehme und epidemische Krank- 
heiten im Gefolge habe, so seien im Gouvernement Samara 147 Dörfer 
vom Skorbut ergriffen. Das Kuratorium der Arbeitsamkeitshäuser, dessen 
Protektorin die Kaiserin ist, schreibt in einem Bericht über den Notstand: 
„Im Laufe von 8 Jahren,“ heißt es darin, „haben vier Mißernten Ruß- 
land heimgesucht, teils vollständige, welche fast den ganzen staatlichen Or- 
ganismus erschütterten, teils partielle, an verschiedenen Stellen auftretende, 
welche zahlreiche einzelne Rayons eines weiten ackerbautreibenden Landstrichs 
entkräfteten, teils endlich örtliche, welche aber nichtsdestoweniger die Be- 
völkerung kolossaler Territorien, die den mittleren europäischen Staaten an 
Flächeninhalt gleichkommen, ins Elend stürzten. Zum viertenmal im Laufe 
von 8 Jahren bleiben Millionen Menschen im wahren Sinne des Wortes 
ohne ein Stück Brot, ohne Mittel zur Ernährung und sogar ohne die 
Möglichkeit, sich die Mittel zu ihrer Existenz zu verdienen. Zum vierten- 
mal im Laufe von 8 Jahren droht Millionen Menschen der wirtschaftliche 
Ruin, die physische Entkräftung und sogar der Hungertod. Schon das 
Jahr 1891 allein erhöhte die Sterblichkeit der Bevölkerung von 32.7 pro
	        
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