Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 8.) 5 
aber das Gefühl der Verantwortlichkeit, und das habe ich soeben bei dem 
Herrn Vorredner vermißt (Sehr gut.) Ich habe vor einigen Tagen 
keinen Zweifel darüber gelassen, daß es durchaus berechtigt war, wenn 
unsere öffentliche Meinung den Versuch und auch nur den Schein, als ob 
die Ehre unserer Armee irgendwie angetastet werden könnte, mit Ent- 
schiedenheit zurückgewiesen habe. Wenn aber diese Zurückweisung nur ein 
Vorwand sein sollte, um uns eine andere Haltung aufzunötigen gegenüber 
dem südafrikanischen Kriege, oder ein Prätext, um unfreundliche, feindliche 
Beziehungen herbeizuführen zwischen unserem Volke und einem Volke, dem 
wir nie feindlich gegenübergestanden haben und mit dem uns zahlreiche 
und schwerwiegende Interessen verbinden, so will ich nicht den mindesten 
Zweifel darüber lassen, daß ich so etwas nicht mitmache. (Bravol) Durch 
Reden, Resolutionen und Volksversammlungen können wir uns die Rich- 
tung der auswärtigen Politik nicht vorschreiben lassen. (Sehr gut!) Die 
wird lediglich bestimmt durch das reale und dauernde Interesse des Bundes, 
und dies weist uns darauf hin, unter voller Aufrechterhaltung unserer 
Würde und Ehre mit England friedliche und freundliche Beziehungen zu 
pflegen. (Sehr richtig!) Dies und nichts anderes hat auch der kaiserliche 
Botschafter in London sagen wollen. Zwischen dem, was er gesagt hat, 
und dem, was ich neulich hier gesagt habe, besteht kein Gegensatz. Daß 
uns die Aufrechterhaltung freundlicher Beziehungen mit England nicht 
gerade erleichtert worden ist durch den Vorfall, der uns seit einigen Tagen 
beschäftigt, werden mit mir alle einsichtigen Kreise nicht nur in Deutsch- 
land, sondern auch in England bedauern. Ich kann nur die Hoffnung 
aussprechen, daß uns durch allseitige Besonnenheit in der Zukunft solche 
Zwischenfälle erspart werden mögen, die uns eine Haltung erschweren, die 
ebenso sehr dem englischen und dem deutschen Interesse entspricht, wie 
demjenigen der Aufrechterhaltung und Sicherstellung des Weltfriedens 
Ich kann aber nicht schließen, ohne auch noch meinem Bedauern Ausdruck 
zu geben über die Art und Weise, wie der Herr Vorredner sich über inner- 
österreichische Verhältnisse ausgesprochen hat. Wenn wir es nicht gern 
haben, wenn wir unter Umständen es uns sehr ernstlich verbitten, daß 
man sich in unsere inneren Angelegenheiten einmischt, dann müssen wir 
auch die inneren Angelegenheiten anderer Länder mit demjenigen Takt 
behandeln, der nach wie vor die beste Grundlage für korrekte internationale 
Beziehungen ist. (Lebhafter Beifall auf allen Seiten des Hauses.) 
8. Januar. Der Preußische Landtag wird vom Minister- 
präsidenten Graf Bülow mit folgender Thronrede eröffnet: 
Erlauchte, edle und geehrte Herren von beiden Häusern des Land- 
tages! Seine Majestät der Kaiser und König haben mich mit der Eröff- 
nung des Landtages der Monarchie zu beauftragen geruht. Die Ungunst 
der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse hat auf die Gestaltung der 
Staatsfinanzen im laufenden Etatsjahre nicht ohne Einfluß bleiben können. 
Während die Rechnung für das Vorjahr 1900 noch mit einem beträcht- 
lichen Mehrertrag abschloß, ist für das Etatsjahr 1901 nach den bisherigen 
Ergebnissen ein günstiger Abschluß nicht zu erwarten, indem namentlich 
die Einnahmen der Staatseisenbahnen wesentlich hinter dem Voranschlag 
zurückbleiben werden. Der Entwurf des Staatshaushaltsetats für 1902 
wird Ihnen alsbald vorgelegt werden. In demselben haben die Ein- 
nahmen des Staates im Hinblick auf den Rückgang der Ueberschüsse der 
Staatsbetriebe besonders vorsichtig und deshalb niedriger als im laufenden 
Etatsjahre veranschlagt werden müssen. Auch fällt in das Gewicht, daß 
die Deckungsmittel für den eigenen Bedarf Preußens durch die ungünstige
	        
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