Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

10 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 13.) 
an ihre Muttersprache dürfe man den deutschen Religionsunterricht nicht 
aufgeben. — Abg. v. Jazdzewski (P.): Der Kampf gegen die Polen sei 
verfassungswidrig. Der Religionsunterricht werde im Widerspruch mit 
kirchlichen Grundsätzen erteilt und man bläut den Kindern diese abweichende 
Auffassung mit dem Prügelstock und der Polizeifaust ein. 
Ministerpräsident Graf Bülow: Ich bin diesem hohen Hause dank- 
bar, daß es die beiden Interpellationen zusammengelegt und mir dadurch 
die Möglichkeit geboten hat, mich über den Gegenstand, welcher den Inter- 
pellationen zu grunde liegt, im weiteren Rahmen auszusprechen. Ich darf 
es dem Kultusminister überlassen, Ihnen über die Vorgänge in Wreschen 
eingehende Aufklärung zu geben. Was ich meinerseits sofort feststellen 
möchte, ist, wie maßlos der Wreschener Vorfall nicht nur von der polnischen 
Presse, sondern zu meinem Bedauern auch von dem Abg. v. Jazdzewski 
übertrieben und aufgebauscht ist. (Hört, hört! bei den Nationalliberalen 
und rechts, Widerspruch bei den Polen.) Man hat diesen Vorfall nicht 
nur zum Gegenstand politischer Demonstrationen in der Presse und in Ver- 
sammlungen gemacht, sondern man hat sogar versucht — glücklicherweise 
ohne Erfolg — diesen Vorfall auszunutzen, um uns internationale Schwierig- 
keiten zu bereiten. (Hört, hört!) Nun wird aber der Kultusminister nach- 
weisen, daß das Vorgehen unserer Schulverwaltung in Wreschen in keiner 
Hinsicht etwas Neues war. In den Schulen der Stadt Wreschen sind nur 
diejenigen Bestimmungen über die Unterrichtssprache bei Erteilung des 
Religionsunterrichtes zur Anwendung gebracht worden, welche in den 
gemischtsprachigen Provinzen seit 30 Jahren bestehen, und von der ihnen 
gesetzlich zustehenden Befugnis haben die Regierungen in Posen und Brom- 
berg einen sehr vorsichtigen und sehr allmählichen Gebrauch gemacht. Wenn 
insbesondere die Regierung in Posen Kinder der katholischen Stadtschule 
in Wreschen der Kenntnis der deutschen Sprache so weit fähig hielt, daß 
sie dem Unterricht folgen konnten, so bewegte sie sich bei Einführung der 
deutschen Unterrichtssprache in den Religionsunterricht durchaus im Rahmen 
der bestehenden Bestimmungen und hat ihre Zuständigkeit in keiner Weise 
überschritten. Wenn es trotzdem zu jenen bedauerlichen Vorgängen ge- 
kommen ist, die zu Landfriedensbruch und zu Bestrafungen einer Anzahl 
Leute geführt haben, so liegt die Schuld nicht an den Organen der Regie- 
rung, sondern an einer planmäßigen Agitation (Ohol! bei den Polen), 
welche darauf abzielte, Kinder gegen Lehrer, die Eltern gegen die Obrig- 
keit aufzuhetzen. (Lärm bei den Polen, „Sehr richtig!“ rechts und bei 
den Nationalliberalen). Die preußische Schulverwaltung ist von Grau- 
samkeiten gerade so weit entfernt, wie die deutsche Rechtspflege, und wenn 
es, was ich tief bedauert habe, in Wreschen Opfer gegeben hat, so waren 
das Opfer der Agitation jener Leute, die sich nicht damit abfinden können, 
daß die ehemals polnischen Landesteile in Westpreußen und Posen un- 
widerruflich deutsche Lande geworden sind. (Beifall rechts und bei den 
Nationalliberalen.) Auch die Lehrer in Wreschen haben sich, wie die Ge- 
richtsverhandlungen ergeben haben, im Rahmen des den Lehrern zustehenden 
Züchtigungsrechtes gehalten. Trotzdem will ich keinen Anstand nehmen, 
zu erklären, daß gerade im vorliegenden Falle, gerade im Religionsunter- 
richte, die Anwendung körperlicher Strafen, auch wenn sie, wie es tatsäch- 
lich der Fall war, in zulässigen und sehr unschuldigen Grenzen geblieben 
ist (Ohol bei den Polen), nicht wünschenswert erscheint. Es ist Vorsorge 
getroffen, daß körperliche Züchtigung als Disziplinarstrafmittel im Religions- 
unterrichte nicht mehr zur Anwendung gelangen soll. Die Schulverwaltung 
in Posen, die ich vollständig in Schutz nehmen muß gegen die Angriffe, 
die der Abg. v. Jazdzewski soeben gegen sie gerichtet hat, und deren Haltung
	        
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