Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

Frankreich. (Januar Anfang—20.) 237 
piere. Der heiße Wunsch Frankreichs sei jetzt die Aufrechterhaltung des 
status quo. Auch bezüglich des Balkans habe der Minister erklärt, sollten 
sich Jtalien und Frankreich einigen. Keine andere Macht würde besser als 
Frankreichs Verbündeter, Rußland, die Bestrebungen Italiens auf dem 
Balkan, speziell in dem Gebiet zwischen Makedonien, Serbien und dem 
Adriatischen Meere verstehen und begünstigen können. Delcassé dementiert 
in der „Agence Havas“ diese Mitteilungen, das „Giornale d'Italie“" hält 
sie aber aufrecht. 
Anfang Januar. (Paris.) Die Vertreter der allemanisti- 
schen Sozialdemokratie treten aus dem sozialdemokratischen Zentral- 
komitee aus, weil ihr Antrag, den Handelsminister Millerand aus 
der Partei auszuschließen, abgelehnt wird. 
15. Januar. Die Kammer tritt zusammen und wählt Des- 
chanel wieder zum Präsidenten. 
20. Januar (Kammer.) Debatte über die überseeische 
Politik. Verhältnis zu England und Rußland. 
Abg. Etienne bedauert, daß beim französisch-englischen Niger-Ab- 
kommen die Engländer sämtliche fruchtbaren Gebiete bis zum Tschad-See 
für sich behalten hätten. Eine Grenzberichtigung sei wünschenswert. 
Frankreich wolle Marokkos Unabhängigkeit respektieren, aber sein Einfluß 
müsse dort vorwiegen. Man müsse die Engländer wissen lassen, daß Frank- 
reich durch jeden Versuch, sich in Marokko an seine Stelle zu setzen, sich verletzt 
fühlen würde. (Beifall.) In Siam müsse Frankreich wenigstens die gleiche 
Stellung wie England einnehmen. Etienne weist schließlich auf die Frage 
betr. Neufundland und die Neuen Hebriden hin und verlangt Schutz für 
Frankreichs Interessen an allen Punkten des Erdballs. Der Minister des 
Aeußern Delcassé: Die Unterzeichnung des chinesischen Protokolls sei den 
Bemühungen Frankreichs zu verdanken. Frankreich flöße den Mächten 
Vertrauen ein, und die Stellung, die es in der Welt einnehme, sei zufrieden- 
stellend. Besonders in der Türkei stehe Frankreich hinter keiner anderen 
Macht zurück. Die wichtigsten Unternehmungen seien dort in den Händen 
von Franzosen. Die Flottenkundgebung vor Mytilene bezweckte die Ver- 
teidigung der wirtschaftlichen Interessen Frankreichs. Dadurch, daß Frank- 
reich sich nicht dauernd auf Mytilene festsetzte, habe es seine Uneigennützig. 
keit gezeigt und bewiesen, daß es das ihm von der Welt geschenkte Ver- 
trauen verdiene. In Neufundland, in Siam und auf den Neuen Hebriden 
verlange Frankreich nur die Aufrechterhaltung der Verträge. Für Frank- 
reich sei die Unabhängigkeit Marokkos von größter Wichtigkeit. Frankreich 
habe seit einigen Jahren durch eine Reihe von Verträgen seine afrikanischen 
Besitzungen genau abgegrenzt. Das französisch-italienische Handelsabkommen 
und der Vertrag bezüglich Afrikas verliehen den Beziehungen Frankreichs 
und Italiens einen neuen Charakter. Die Folge war die hervorragende 
Kundgebung in Toulon, die als das Ende einer langen Reihe von Miß- 
verständnissen begrüßt wurde. (Beifall.) Die französisch-russische Allianz 
bedrohe niemand, könne aber alle Bedrohungen vereiteln. Der Einsicht 
des Parlamentes sei es zu verdanken, daß die Regierung alle diese Resultate 
erlangen konnte. (Beifall.) 
In der weiteren Debatte wird von mehreren Rednern gerügt, daß 
die Mächte keinen Versuch machen, dem greuelvollen Kriege in Südafrika 
Einhalt zu tun.
	        
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