Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

54 Jas Venutsche Reich und seine einjelnen Glieder. (März 13. 14.) 
Die Regierung findet nur bei den Freisinnigen und Sozialdemokraten 
Unterstützung. Abg. Gamp (RP.) fragt, ob der Staatssekretär seine per- 
sönliche Meinung oder die des Bundesrates vertrete. Staatssekretär 
v. Richthofen: Meine Erklärung habe ich im Namen der verbündeten 
Regierungen abgegeben. Nicht vertraulich ist die Erklärung, daß die Re- 
gierung behufs Abschlusses von Handelsverträgen Zollfreiheit für die be- 
treffenden Positionen zu gewähren bereit ist. Die Regierung muß das 
Recht haben, ihre Stellung unzweideutig kundzugeben. 
13. März. Der Reichstag genehmigt in dritter Lesung den 
Etat, der in Einnahme und Ausgabe balanciert mit 2303009829 
Mark. Davon entfallen 1971527 823 Mark auf die fortdauernden, 
180 387187 Mark auf einmalige Ausgaben des ordentlichen Etats, 
151 094 819 Mark auf einmalige Ausgaben des außerordentlichen 
Etats. 
13.20. März. (Badische Abgeordnetenkammer.) Be- 
ratung der Wahlrechtsfrage. 
Auf eine Anfrage über die Reform des Landtagswahlrechts erwidert 
Minister des Innern Dr. Schenkel, die Regierung denke an die Einfüh- 
rung des direkten Wahlrechts ohne Kautelen, aber mit gewissen Beschrän- 
kungen. Aber man dürfe sich in dieser Frage nicht übereilen. Ueber die 
politische Wirksamkeit der Beamten sagt der Minister: Es steht den Be- 
amten frei, ob sie mehr nach links oder nach rechts oder mehr in der 
Mitte bleiben wollen, wir üben darüber keine Aufsicht aus. Dagegen sind 
die Verwaltungsbeamten nicht gehindert, in die politische Bewegung ein- 
zugreifen und es kann der Regierung unter Umständen nur wünschenswert 
sein, wenn sie davon Gebrauch machen. Es kommt vor, daß die Regierung 
schwer angegriffen wird, falsche Tatsachen werden behauptet, die zur Folge 
haben, das Ansehen der Regierung herabzusetzen. Wenn in solchen Fällen 
ein Beamter eingreift und eine derartige falsche Beurteilung der Regierung 
widerlegt und ihr Ansehen schützt, so ist er des Dankes der Regierung 
sicher. Es scheint allmählich der Gedanke einzureißen, als ob die Regierung 
gar kein Interesse daran habe, wie eine Wahl ausgehe, als ob die Regie- 
rung wie ein zaghaftes Mädchen dastehe, während die Parteiriesen den 
Kampf ausfechten. Die Regierung ist aber nicht bloß Verwalterin, sie hat 
auch eine Politik, sie hat große politische Ziele, welche zu vertreten die 
Regierung sowohl im Reiche als auch im Innern Interesse hat. Es wird 
immer so sein, daß entweder diese oder jene Partei sich mehr in Ueber- 
einstimmung befindet mit diesen Zielen der Regierung. Wenn der Beamte 
für die Förderung der Regierung eintritt, so ist er des Dankes der Regie- 
rung sicher, kommandieren werde ich ihn aber nicht dazu. — Abgeordneter 
Wacker (3.) greift den Minister scharf an, weil die Erklärung nicht klar 
sei und die Beamten zur Wahlagitation einlade. 
14. März. (Preußen.) Diskussion von Unterrichtsfragen. 
Ministerialdirektor Dr. Kuegler im Kultusministerium wird zum 
Präsidenten des Oberverwaltungsgerichtshofes ernannt. Die liberale Presse 
bedauert sein Ausscheiden im Interesse der Volksschule (vgl. Jahrg. 1899 
S. 43), die Presse des Zentrums bezeichnet ihn als Hauptvertreter des 
Kulturkampfgeistes. Nach der „Kölnischen Volkszeitung“ hat Windthorst 
mit Mühe seine Ernennung zum Unterstaatssekretär durch den Kultus- 
minister v. Goßler verhindert.
	        
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