Das Vernsche Reich und seine einjelnen Glieder. (März 14. Mitte.) 55
14. März. (Hessen.) Steuer= und Finanzfragen.
Die Zweite Kammer genehmigt nach vierwöchiger Beratung das
Budget. Um einen Fehlbetrag zu decken, hatte die Regierung eine Er-
höhung der Vermögenssteuer vorgeschlagen, das Zentrum beantragte Frei-
lassung der Vermögen von 3000 bis 15000 Mark, die Nationalliberalen
und Antisemiten beantragten zugleich Erhöhung der Einkommensteuer.
Die Regierung erklärt beide Erhöhungen zusammen für unannehmbar.
Nach langer Debatte lehnt die Kammer die Erhöhung der Einkommen-
steuer mit 28 gegen 13, die Freilassung der Vermögen von 3000 bis
15.000 Mark von der Vermögenssteuer mit 21 gegen 20 Stimmen ab und
genehmigt die Erhöhung der Vermögenssteuer von 55 auf 75 Pfennig für
je 1000 Mark Vermögen.
Mitte März. (Berlin.) Enthüllung über die Motive des
Fürsten Bismarck bei Einbringung der Getreidezollvorlage 1887.
Veröffentlichung eines Briefes Bismarcks an den damaligen Land-
wirtschaftsminister.
Infolge eines Artikels in der „Kreuzzeitung“ richtet der frühere
Landwirtschaftsminister v. Lucius folgendes Schreiben an den Abg. Graf
Mirbach (kons.): Berlin, 16. März 1902. Hochgeehrter Herr Graf! Ew.
Hochgeboren sprechen in einem an die „Kreuzzeitung“ gerichteten Schreiben
die Ansicht aus, daß es sich bei Einbringung der Getreidezollvorlage im
November 1887 nicht um einen Kampfzoll, sondern lediglich und in erster Linie
um einen Schutzzoll gehandelt habe, und rufen mein Zeugnis an. Ich kann
diese Auffassung von der Bedeutung der damaligen Vorlage der verbün-
deten Regierungen nur bestätigen. Der Einbringung der Vorlage waren
im Preußischen Landtage wiederholte Verhandlungen vorausgegangen, welche
die Notlage der Landwirtschaft konstatierten und eine Abhilfe nach Mög-
lichkeit der Regierung zur Pflicht machten. Verhandlungen über den Ab-
schluß von Handelsverträgen schwebten überhaupt damals nicht. Man be-
schränkte sich, um diesen rein schutzzöllnerischen Zweck zu erreichen, daher
in der Vorlage auf Getreide und Oelfrüchte, ohne die Vieh= und Holzzölle
zu berühren. In den Kommissionsverhandlungen wurden die Oelfrüchte
gestrichen, und es blieb bei einer Erhöhung der Getreidezölle. Vorgeschlagen
war eine Erhöhung der Roggen= und Weizenzölle auf 6 4, Hafer 3 J4,
Gerste 2,25 J Eine verschiedene Tarifierung von Roggen und Weizen
galt damals als zolltechnisch nicht wohl ausführbar wegen der Schwierig-
keit, die Mühlprodukte beider Getreidearten beim Export zu unterscheiden.
Für Gerste hatte Bayern damals auf dem niedrigeren Satz von 2,25 M
bestanden, der sonst wohl mindestens dem Hafer gleichgestellt worden wäre.
Schließlich wurde in den Plenarbeschlüssen des Reichstages der Zoll auf
Roggen und Weizen auf 5 „/X normiert, der Haferzoll auf 4.4 erhöht,
Gerste blieb unverändert, der ursprünglichen Vorlage gemäß, auf 2,25 4#
Die erste Beratung fand am 1. Dezember 1877 statt, die dritte brachte am
17. Dezember die Sache zum definitiven Abschluß. Dieser schnelle und
günstige Verlauf wurde dadurch erreicht, daß sich die verbündeten Regie-
rungen wie der Reichstag auf das Wichtigste beschränkten und einigten.
Insbesondere sahen die Parteien des Reichstages davon ab, die Vorlage
zu belasten mit den damals noch kontroversen Fragen des Identitätsnach-
weises und der Goldwährung. Die Reduktion der Regierungsproposition
der Zollsätze für Roggen und Weizen von 6 auf 5 J/ setzte damals der
Abg. Windthorst durch, obschon im Zentrum anscheinend eine Mehrheit für
die höheren Sätze existierte. Am 13. Dezember 1887 stimmten für 6 “4