Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

66 Has Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 25.—28.) 
wieder unter die strenge Aufsicht der Geistlichen gestellt werden. 2. Wir 
verlangen, daß es uns freisteht, unter der preußischen Regierung Polen zu 
sein und unser Polentum und unsere polnische Literatur zu pflegen. Zu 
diesem Zweck fordern wir von der Regierung, daß unsere polnische Sprache 
auf allen Behörden, wie auch im ganzen bürgerlichen Leben zum min- 
desten gleichberechtigt wird. In den Volksschulen müssen unsere Kinder 
anfangs nur auf polnisch unterrichtet werden und nachher müssen sie so 
gut wie möglich in der deutschen Sprache ausgebildet werden. Auf allen 
Behörden muß der Pole die polnische Sprache gebrauchen dürfen, sei es 
schriftlich oder mündlich. In den polnischen Landesteilen müssen die Be- 
amten geborene Polen sein, mindestens aber die polnische Sprache fließend 
beherrschen. Alle polnischen Landesteile, also Schlesien, Posen, Westpreußen, 
Masuren und Ermland müssen zu einem Ganzen unter der Verwaltung 
eines besonderen königlichen Statthalters mit einem besonderen Landtag 
vereinigt werden. Außerdem muß in Berlin ein besonderer Minister für 
polnische Angelegenheiten sein. Dieser Statthalter und dieser Minister 
müssen die polnische Sprache zum mindesten genau kennen. Natürlich 
müssen alle gegen die Polen erlassenen Ausnahmegesetze und Verordnungen 
aufgehoben und ein Gesetz erlassen werden, das den Beamten und Be- 
hörden bei strengen Strafen jegliche Bedrückung und Verfolgung der pol- 
nischen Nationalität verbietet. 
25. April. Das Preußische Abgeordnetenhaus genehmigt 
in dritter Beratung den Etat, der balanciert mit 2614 167144 Mark. 
Auf die fortdauernden Ausgaben entfallen 2 468 457 174 und auf 
die einmaligen außerordentlichen 145 709 970 Mark. 
26. April. Der Reichstag genehmigt in zweiter Lesung die 
Seemannsordnung. Sozialdemokratische Anträge auf Erweiterung 
des Koalitionsrechts der Seeleute werden abgelehnt. 
W. April. (Reichstag.) Annahme der Diäten für die 
Zolltarifkommission. 
Staatssekretär Graf Posadowsky begründet die Vorlage (S. 64) 
mit folgender Erklärung: Die Anregung zu dem Gesetzentwurf ist ebenso, 
wie die analogen Gesetze von 1874 und 1876 aus der Irnitiative des 
Reichstags hervorgingen, aus der Initiative der Kommission hervor- 
gegangen, und die verbündeten Regierungen haben geglaubt, daß es richtig 
sei, dieser Anregung zu entsprechen. Es ist in der Oeffentlichkeit behauptet 
worden, daß in diesem Gesetzentwurf eine Verfassungsänderung liege, weil 
nach der Reichsverfassung Mitgliedern des deutschen Reichstages keine Ent- 
schädigung für ihre Tätigkeit geboten werden soll. Das ist in gewisser 
Einschränkung richtig, aber man darf auch nicht vergessen, daß es nur eine 
zeitweilige Veränderung der Verfassung ist (Lachen links), eine Ausnahme- 
maßregel, geboten durch die Verhältnisse und nicht das erstmalige Eintreten 
einer solchen Maßregel; denn im Reichstage sind schon mehrere Vorgänge 
dafür vorgekommen. Im Beginn meiner Ausführungen wies ich darauf 
hin, daß auch die Gesetze von 1874 und 1876 auf Anregung aus der Mitte 
des Hauses hervorgingen, und zwar auf Grund eines Antrages, den der 
verstorbene Abg. Dr. Lasker gestellt hat. Es ist vielleicht interessant, in 
unserer kurzlebigen Zeit das zu verlesen, was dieser politisch außerordentlich 
hochgeachtete Abgeordnete damals erklärte: Nach unbestrittener Auffassung 
aller müssen wir es für unzulässig halten nach den bestehenden Gesetzen
	        
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