Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

102 JNas Veutsche Reich und seine eintelnen Glieder. (Juni 4. 9.) 
kunft dieses so bedeutenden Kunstzweiges. Eine Hilfe dagegen ist nur 
möglich durch Zurückkehren zu natürlicher Einfachheit, zu gesundem Em- 
pfinden und zum Erkennen der wahren Zwecke dieser Kunst und durch Ab- 
weichen von aller Unnatur und Künstelei. Wir wollen durchaus nicht 
damit etwa sagen, daß nur das Volkslied dem Männerchor entspreche. 
Wir erkennen neben dem Volkslied ein sogenanntes Kunstlied auch im 
Männerchor an, aber nur wenn es den genannten Bedingungen entspricht. 
Es wird notwendig sein, daß in Zukunft vor allem auch als Preischor 
nur ein solches Stück gewählt werde, welches infolge der Beachtung dieser 
einfachen ästhetischen Grundregeln als ein Kunstwerk erkannt werden kann. 
Wir halten es für unsere Pflicht, Seine Majestät zu bitten, diese Be- 
strebungen durch sein allergnädigstes Wohlwollen zu unterstützen, und die 
Dirigenten, beziehungsweise Vorfttenden der Vereine zu ermahnen, durch 
Erkennensuchen und Streben nach künstlerischer Wahrheit vor allem un- 
erer Kunst wirksam zu dienen. Wir tun das um so mehr, als wir uns 
in dieser Ansicht mit Sr. Majestät in vollkommener Uebereinstimmung 
wissen.“ 
Hierauf sagt der Kaiser: „Meine Herren! Ich erwarte von Ihnen, 
daß Sie möglichst dieser Ansicht und diesen Meinen Ratschlägen entsprechen 
werden. Ich bin fest davon überzeugt, daß dann auch die Sänger selbst 
noch mehr Freude an der Einübung haben. Ich glaube, daß da, wo die 
Noten erst eingeübt werden mußten, eine geradezu physische Anstrengung, 
nötig gewesen ist, um das zu erreichen, was Sie erreicht haben, zumal 
bei den Mitgliedern, die in Fabriken arbeiten. Es ist erfreulich, wie viele 
vom Hammer und vom Amboß, von der Schmiede hergekommen sind, um 
hier zu singen. Aber es muß schlaflose Nächte gekostet haben. Wenn wir 
auf einfachen Gesang kommen, dann sind Sie in der Lage, mit den rein 
künstlerischen Vereinen zu konkurrieren, deren Mitglieder tagsüber in einer 
Atmosphäre leben, die besser und staubfreier ist, was doch auf die Stimm- 
organe sehr einwirkt. Sonst kann ich nur sagen, daß wir zum Teil ge- 
radezu ganz hervorragendes Material gehört haben, auch abgesehen von 
den Vereinen, die auch unter Ihnen als hervorragend anerkannt sind. 
Instrumental glockenartige Effekte! Unzweifelhaft ist, daß ein hoher Grad 
von musikalischer Begabung in der Bevölkerung steckt, der aber in ein- 
fachen, klangreichen Harmonien sich zu zeigen Gelegenheit haben muß. 
Wenn Sie diese einfachen schönen Chöre, wie sie das Volkslied und die 
Komposition darbieten, die ich genannt habe, so werden Sie selber Freude 
haben und weniger Schwierigkeiten, und gleichzeitig werden Sie das Publi- 
kum, das zum Teil aus Fremden besteht, besser mit unserem Volkslied 
bekannt machen. Sie werden mit dem Volksliede den Patriotismus stärken 
und damit das allgemeine Band, das alle umschließen soll. Ich danke Ihnen.“ 
4. Juni. (Bayern.) Es wird eine Verordnung über die 
Schulpflicht erlassen, die in der Hauptsache ältere Verordnungen 
zusammenfaßt und redaktionell verändert. 
9. Juni. (Württemberg.) Debatte in der Zweiten Kammer 
über Einmischung des Klerus in die Wahlagitation. 
Abg. Hildenbrand (Soz.) zitiert folgenden Passus einer Rede, 
die Bischof Keppler von Rottenburg am Himmelfahrtstage in Mergent- 
heim auf einer Firmungsreise gehalten hat: „Heute sind uns noch viel 
mehr als früher Männer notwendig, ganze Männer, ganze Katholiken. 
Einzutreten für Kirche und Glauben, die katholische Schule zu unterstützen 
in Kirche und Leben und Familie, in Presse und in Wahlen, das ist
	        
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