Das Veische Reich und eine einzelnen Glieder. (Juni.) 103
heutzutage Mannespflicht. Denn in Kriegszeiten wird erfordert, daß jeder
treu zu seiner Fahne halte, und der, welcher das in solcher Zeit nicht tut,
der ist ein Feigling und Verräter.“ Der Redner tadelt diese Stelle scharf
als Wahlagitation und fordert, der Kultusminister möge seinen Einfluß
dahin geltend machen, daß man in Ruhe gelassen werde vor solchen Ein-
griffen und zwar im Interesse der Gewissensfreiheit; er werde damit den
konfessionellen Frieden fördern. Der Bischof sollte nicht nötig haben, im
Interesse seines Amtes in die politischen Händel
Kultusminister v. Weizsäcker: Es handle um eine kirch-
liche Handlung des Bischofs, sondern um eine Aeußerung; die
Staatsregierung habe also kein legales Recht einzuschreiten und verhalte
sich völlig neutral.
April—Juni. Wahlbewegung.
Zwischen Zentrum und Polen herrschen im Osten und im Westen
erhebliche Differenzen. In Posen protestiert die radikale Volkspartei gegen
ein Zusammengehen mit den deutschen Katholiken, weil diese lieber einen
Hakatisten als einen Polen wählten und fordert eine gemeinsame polnische
Wahlorganisation für das ganze Deutsche Reich. In Oberschlesien wird
namentlich Graf Ballestrem als „Deutscher Kreuzritter“ auf polnischem
Boden angegriffen. Kardinal Erzbischof Kopp erläßt einen Hirtenbrief
gegen die radikalpolnische Presse (7. Juni), was große Erregung und Protest
auf seiten der Polen hervorruft.
Unter den bürgerlichen Parteien wird die Frage, wie man sich zur
Sozialdemokratie stellen solle, viel erörtert, aber eine einheitliche Parole
wird nicht gefunden. Die Sozialdemokratie liegt namentlich im Kampfe
mit der freisinnigen Volkspartei, die den Sozialdemokraten unlautere Mittel,
wie Saalabtreibungen, Sprengung von Versammlungen, persönliche Ver-
leumdungen u. dgl. vorwirft. Im allgemeinen wird vorzugsweise die
Stellung zu den Handelsverträgen in den Wahlaufrufen erörtert. Infolge-
dessen erklären sich bürgerliche Politiker gleichzeitig gegen die Sozialdemo-
kratie wie gegen den Bund der Landwirte, weil beide die Handelsverträge
auf der Grundlage des Zolltarifs ablehnten. Die „Preußischen Jahrbücher"
fordern auf, im Interesse der konservativen Partei unter keinen Umständen
für einen Bündler zu stimmen, damit nicht die Agrardemagogie die ge-
mäßigten Konservativen überwuchern. Diese Parole wird von der „Kreuz-
zeitung“ scharf angegriffen, aber viel beachtet und namentlich im Wahl-
kampfe gegen den agrarischen Führer Oertel verwertet. Von zentrums-
feindlicher Seite wird häufig über Wahlbeeinflussungen durch Geistliche
Klage geführt. Ueber die Zahl der Kandidaten schreibt die „Allgemeine
Zeitung“ (Mitte Juni): „Nicht weniger als 1424 Kandidaturen werden
in den 397 Wahlkreisen den Wählern empfohlen. Mehr als 100 Kandi-
daten haben aufgestellt: die Sozialdemokraten (394), die Nationalliberalen.
das Zentrum (161), die Freisinnige Volkspartei (112), die Deutsch-
onservativen (111). Dann folgen die Antisemiten (50), die Freisinnige
Vereinigung (41), der Bund der Landwirte (39), die Reichspartei (38),
die Polen (25), die Deutsche Volkspartei (24), der Bayerische Bauernbund
(20), die Elsässer (19), die Nationalsozialen (9), die Lithauer und Dänen
(ie 3), Masuren (1), dazu kommen noch die Welfen und die Rechtspartei
in Mecklenburg (1). Unter diesen Kandidaten befinden sich nicht weniger
als 147 Berliner, die Vororte eingerechnet. Davon sind 46 Sozialdemo-
kraten und 43 Freisinnige, 16 Nationalliberale, 13 Konservative, 2 Bündler
(Hahn und Bley), 2 Reichsparteiler, 14 Antisemiten aller Richtungen,
6 Zentrumsanhänger und 5 Nationalsoziale."“