Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder (Juli 21.) 119
schen Bevölkerung am Ausbau des Deutschen Reiches weiter gearbeitet
werden kann, so ist dies nicht zum wenigsten der staatsmännischen Einsicht
des Papstes Leo zu danken, der auch nach Beilegung des Kulturkampfes
wiederholt und noch in seinem letzten Lebensjahre ein offenes Verständnis
für die staatlichen Bedürfnisse Deutschlands zeigte. Unter den vielen
Päpsten, die in der deutschen Geschichte eine Rolle spielten, wird Papst
Leo XIII. eine der sympathischsten Erscheinungen bleiben.“
Der Kaiser telegraphiert aus Molde (Norwegen) an den
Kardinal Oreglia:
Schmerzlich bewegt durch die soeben erhaltene Trauernachricht, sende
Ich dem hohen Kardinalkollegium den Ausdruck Meiner aufrichtigen Anteil-
nahme an dem schweren Verlust, welchen die römisch-katholische Kirche durch
den Heimgang des Papstes Leo XIII. erlitten hat. Ich werde dem er-
habenen Greise, der Mir ein persönlicher Freund war, und dessen so außer-
ordentliche Gaben des Herzens und des Geistes Ich noch bei Meiner letzten
Anwesenheit in Rom, erst vor wenigen Wochen, erneut bewundern mußte,
ein treues Andenken bewahren. Wilhelm I. R.
21. Juli. (Berlin.) Reichstagsabgeordneter R. Rösicke, her-
vorragender Sozialpolitiker liberaler Richtung, fast 58 Jahre alt, †.
(Vgl. Soziale Praxis 1903 Nr. 44 und Preuß. Jahrbücher Bd. 79.)
Juli. Streit in der sozialdemokratischen Partei.
In den „Sozialist. Monatsheften“ empfiehlt Abg. Bernstein (vgl.
1902), daß die sozialdemokratische Fraktion entsprechend ihrer Stärke eine
Vertretung im Präsidium des Reichstags beanspruchen soll. Abg. Bebel
und der Schriftsteller Franz Mehring antworten in der „Neuen Zeit“
schroff, daß dieser Vorschlag allen sozialdemokratischen Prinzipien zuwider-
laufe, weil mit dem Präsidentenposten gewisse höfische Repräsentations-
pflichten verbunden seien. Abg. v. Vollmar erklärt die Erörterung der
Vizepräsidentenfrage in der Presse für taktisch fehlerhaft, wendet sich aber
scharf gegen Bebel, der die Meinungsfreiheit in der Partei unterdrücken
wolle, und weist der Fraktion die Aufgabe zu, über die Präsidiumsfrage
zu beschließen. Nach seiner Meinung hat die Fraktion den ihr zukommen-
den Vizepräsidenten zu verlangen. — In der weiteren Diskussion erklärt
sich auch Abg. Singer gegen Bernstein und Abg. Bebel kündigt eine
Diskussion dieser und anderer Streitfragen auf dem Parteitag an, wo
Klarheit über die in der Partei geltende Anschauung geschafen werde solle:
„Ich bin überhaupt der Ansicht, daß die Zeit des Vertuschens und des
gegenseitigen Komödienspiels in der Partei vorbei ist und wir uns klar
darüber werden müssen, wie wir zueinander stehen. Ich kann kein Be-
dürfnis nach einer anderen parlamentarischen Taktik und nach gänzlich
neuen Aufgaben für die Fraktion anerkennen, da ich in dem großartigen
Ausfall der letzten Reichstagswahlen zu Gunsten der Partei nur die dank-
bare und zustimmende Anerkennung der Wähler zu der Taktik, die bisher
die Fraktion im Reichstag innegehalten hat, und zu der Tätigkeit, die sie
dort entfaltete, erblicke."
In der bürgerlichen Presse wird überwiegend die Ansicht vertreten,
daß der Reichstag einen Sozialdemokraten nicht ins Präsidium wählen
könne, weil der Reichstag als Organ der Verfassung sich nicht von einer
Partei vertreten lassen könne, die grundsätzlich die Vernichtung der gel-
tenden Verfassung anstrebe. So namentlich die konservativen, national-
liberalen und mehrere Zentrumsblätter. Abg. Bassermann (nl.), der