Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

Das Dentshhe Reich und seine einfelnen Glieder. (Oktober 18.) 151 
die Heilige genannt werden und an die sie sich hilfesuchend wenden, aber 
das ist alles Nebensache und eitel; der einzige Helfer und Retter ist und 
bleibt der Heiland. Ich kann euch nur eines vom ganzem Herzen raten 
für euer zukünftiges Leben: schafft und arbeitet ohne Unterlaß, das ist der 
Kern des Christenlebens, wie er es uns vorgelebt hat! Werft einen Blick 
in die Schrift und leset die Gleichnisse unseres Heilands. Am schwersten 
wird der bestraft, der nichts tut, der sitzen bleibt, mit dem Strom mit- 
geht und die anderen arbeiten läßt, wie in dem Gleichnisse von dem 
Pfunde. Was auch eure Passionen und was auch eure Gaben sein mögen, 
es möge ein jeder darnach trachten, auf seinem Gebiete das Beste zu 
leisten und eine Persönlichkeit zu werden, in seine Aufgaben hinein zu 
wachsen, in ihnen zu schaffen und sie zu fördern nach dem Beispiele des 
Heilandes. Trachtet vor allem danach, daß das, was ihr vornehmt, mög- 
lichst stets zu einer Freude für eure Mitmenschen werden kann, denn das 
ist das Schönste, mit anderen sich gemeinsam freuen zu können, und wo 
das nicht möglich ist, daß euer Werk den Mitmenschen wenigstens zu Nutz 
und Frommen sein möge, wie unseres Herrn arbeitsreiches und tatenfrohes 
Leben es stets gewesen ist. Dann habt ihr das erfüllt, was von euch er- 
wartet wird, dann werdet ihr brave deutsche Männer und tüchtige Prinzen 
meines Hauses werden und teilnehmen können an der großen Arbeit, die 
uns allen beschieden ist. Daß ihr eine solche Arbeit mit Segen zu ihrem 
Ziele führen möget und daß euch Gottes und des Heilandes Hilfe dabei 
nicht fehlen möge, darauf leeren wir am heutigen Tage unsere Gläser! 
18. Oktober. (Berlin.) Enthüllung von Denkmälern des 
Kaisers und der Kaiserin Friedrich in Gegenwart des Kaiserpaares. 
Der Kaiser hält bei der Festtafel folgende Rede: 
Den Gefühlen, die heute am Tage dr Enthüllung sowohl die 
Kinder wie die Hausgenossen und Befreundeten der beiden hohen Dahin- 
geschiedenen beseelt haben, das richtige Wort zu geben und sie in das 
richtige Gewand zu hüllen, ist einem lenglähren treuen Freunde und 
Hausgenossen gelungen. Und Ich glaube, daß ich am heutigen Tage in 
keiner besseren Weise der Vergangenheit und der Wirksamkeit Meiner Eltern 
gedenken kann, als daß Ich die kurzen aber inhaltsreichen Sätze, die der 
Geheimrat Hinzpeter in dankbarer Liebe und Verehrung Meiner Eltern 
aufs Papier geworfen hat, Ihnen bekannt gebe: Diese stolzen, glän- 
enden Gestalten werden in den Beschauern auch der künftigen Geschlechter 
7 andere Empfindungen erwecken als die Bilder der nun abgeschlossenen 
Siegesallee. Ihre Sympathie und ihre Bewunderung werden immer mit 
Mitleid vermischt sein; ihre Ehrfurcht wird mehr den Leiden gelten als 
den Taten. Diese Figuren werden mehr die Sage beschäftigen als die 
Geschichte, denn sie repräsentieren mehr Ideen als Ereignisse. Wohl leuch- 
tete auch ihr Leben weit über das Land; aber ehe es sich entfaltet und 
voll bewährt hatte, wurde es jählings zerrissen von einem unerhört grau- 
samen Geschick. Der Kaiser Friedrich, der hochsinnige Fürst und weit- 
herfige Mann, der tapfere Held und siegreiche Feldherr wurde in der 
Fülle der Kraft von heimtückischer Krankheit dahingerafft. — Die Kaiserin 
Friedrich, die warmherzige und kunstsinnige Frau von klarem Geist und 
starkem Willen wie von unersättlichem Wissensdurst und Schaffensdrang 
wurde in voller Blüte von demselben Feinde zu Tode gequält. — Ein 
Schicksal, so tragisch, daß es die Seele des Volkes tief erschütterte, sie mit 
Mitleid für das furchtbare Leiden wie mit Trauer um die eigenen ver- 
lorenen Hoffnungen erfüllte. Zu der Zeit, als diese beiden ihr gemein- 
sames Leben begannen, war die deutsche Nation in tiefer weitgreifender
	        
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