Das Veische Reich und seine einzelnen Glieder. (Oktober 18.) 153
stehenden Wahlen versuchsweise zu beteiligen, um festzustellen, wie weit
das arbeitende Volk bei einem solchen, Recht und Gerechtigkeit verhöhnenden
Wahlsystem einen Erfolg zu erringen vermag. Wähler! Wir wissen, daß
unter der Herrschaft dieses Dreiklassenwahlsystems und besonders auch wegen
der damit verbundenen öffentlichen Stimmenabgabe große Hindernisse vor-
handen sind, um die Stimmen des arbeitenden Volkes zur Geltung zu
bringen. Hunderttausende, die bei den Reichstagswahlen zu uns halten
und unsern Kandidaten ihre Stimmen geben, find bei der öffentlichen
Stimmenabgabe bei den Landtagswahlen gezwungen, entweder der Wahl-
urne fern zu bleiben und so auf die Ausübung ihres wichtigsten Staats-
bürgerrechts zu verzichten oder sogar gegen ihre Ueberzeugung, einem
Drucke von oben folgend, Kandidaten zu wählen, die sie als ihre Tod-
feinde ansehen. So kommt zu der Rechtlosigkeit noch die politische Heuchelei,
zu welcher Staatsgewalt und herrschende Klassen ungezählte Wähler zwingen.
Das hindert aber nicht, daß diese Gewalten sich als Hüter und Wahrer
der öffentlichen Moral und Sittlichkeit aufwerfen. Um so notwendiger ist,
daß diejenigen Wähler, die Rücksichten nicht zu nehmen haben, Mann für
Mann am 12. November an die Wahlurne treten und den sozialdemo-
kratischen Wahlmännern ihre Stimme geben, welche unsere Partei in allen
den Wahlbezirken der Wahlkreise aufstellen wird, in welchen sie sich Erfolg
verspricht. Wähler! Das bisher gültige Wahlsystem verhinderte, daß der
preußische Landtag als eine Volksvertretung angesehen werden konnte. Er
war bisher eine ausschließliche Vertretung der besitzenden Klassen und
konnte nichts anderes sein, und dementsprechend sind auch die Gesetze, die
diese „Volksvertretung“ beschlossen und die Maßnahmen, denen sie ihre
Zustimmung gegeben hat, ausgefallen. Die weitaus stärkste Partei in
Preußen, die Sozialdemokratie, ist bisher im Landtag auch nicht durch
einen Abgeordneten vertreten gewesen. So ist es gekommen, daß unter
der Herrschaft dieser privilegierten Klassenvertretung sich vielfach Zustände
herausgebildet haben, die eines Kulturstaates unwürdig sind. Neben der
zweiten Kammer des Landtags, dem Abgeordnetenhause, besteht aber auch
noch die erste Kammer, das sogenannte Herrenhaus, in dem die Privi-
legiertesten unter den Privilegierten vertreten sind, die es als ihre vor-
nehmste Aufgabe ansehen, jedem wirklichen Fortschritt ein Hindernis zu
bereiten und die staatliche Entwicklung in den Daumschrauben eines mittel-
alterlichen feudalen Absolutismus zu zerquetschen. Ist schon das Ab-
geordnetenhaus eine Versammlung Gewählter, die jedem Begriff einer
Volksvertretung Hohn spricht, in dem Herrenhaus begegnen wir einer Ver-
sammlung Ernannter, deren Hauptverdienst um Staat und Gesellschaft
für die große Mehrzahl unter ihnen darin besteht, daß sie sich die Mühe
nahmen geboren zu werden und zu verzehren, was sie nicht erworben
haben. Gegen diese entwürdigenden Zustände muß bei den bevorstehenden
Wahlen zum Landtag durch eine möglichst große Zahl sozialdemokratischer
Stimmen energisch Protest erhoben und der Versuch gemacht werden, durch
Wahl von sozialdemokratischen Vertretern den Interessen der bisher un-
vertreten gebliebenen arbeitenden Volksmehrheit einigermaßen gerecht zu
werden, um Zustände zu bekämpfen, die eine Schmach für unser Zeitalter
und eine Schande für den Staat sind. Wähler! Darum auf zur Wahl
am 12. November! Die Kandidaten der Sozialdemokraten werden im
Falle ihrer Wahl einzutreten haben: Für das allgemeine, gleiche direkte
und geheime Wahlrecht für alle Vertretungskörper (Staat, Gemeinden 2c.)
an alle für mündig erklärten Staatsangehörigen. Gesetzliche Einteilung
gleicher Landtagswahlkreise. Porportionalwahl (Verhältniswahlsystem).
Beseitigung des Herrenhauses. Freiestes Vereins-, Versammlungs= und