Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

Großbritannien. (Februar—März 2.) 243 
Abg. Howard Vincent (kons.) führt aus, daß die neuerdings 
bedeutend erhöhte Einwanderung von mittellosen Fremden nach dem Eastend 
in London eine schwere nationale Gefahr bilde und die Wohlfahrt der 
Arbeits= und Wohnungsverhältnisse der englischen Arbeiterklassen in ernster 
Weise in Mitleidenschaft ziehe. Er fordert die Regierung auf, ihre Ver- 
sprechungen zu erfüllen und in nächster Zeit einen entsprechenden Gesetz- 
entwurf einzubringen, indem er darauf hinweist, daß die Zahl der im 
letzten Jahre in England angekommenen 81 402 gegen 70 610 im Jahre 1901 
gewesen sei. Unter diesen Fremden sei eine beträchtliche Anzahl Bestrafter 
gewesen; auch sei die Zahl der Ausländer in der Handelsmarine bedenklich 
gestiegen. Handelsminister Gerald Balfour: die Regierung erkenne die 
Schwierigkeit der Einwanderungsfrage an und habe eine Kommission mit 
der eingehenden Prüfung dieser Angelegenheit betraut. Bevor dieselbe ihre 
Arbeit beendet habe, sei es unmöglich, eine Entscheidung zu treffen. 
Februar. März. In der „Times“ teilt der Admiral Cochrane 
mit, daß im Regiment „Grenadier-Garde“ gegen Subalternoffiziere 
die Prügelstrafe angewendet werde. Die Angelegenheit wird lebhaft 
erörtert, der Kommandeur des Regiments erhält den Abschied. 
2. März. (Oberhaus.) Verhältnis zu Deutschland und 
Venezuela. (Vgl. S. 13, 61.) 
Lord Rosebery führt aus, England sei froh, sich aus der Venezuela- 
angelegenheit mit nicht mehr Schaden für seinen Ruf herausgewickelt zu 
haben, als dies der Fall gewesen sei. In der ganzen Angelegenheit habe, 
wie es scheine, die britische Regierung stets Grundsätze von weittragender 
Bedeutung aufgestellt, sei aber stets auch wieder genötigt worden, von 
diesen zurückzuweichen. Die Regierung habe erklärt, England hätte dieselbe 
Entschädigung zu erhalten wie Deutschland, am Ende habe aber Deutsch- 
land 68.000 Pfund Strl. erhalten und England 5500 Pfund Strl. Diese 
Summen repräsentierten das Verhältnis des Vorteils, den man von der 
Verständigung zwischen Großbritannien und Deutschland gehabt habe. Er 
tadle Deutschland nicht, aber wenn etwas mehr Gleichheit des Erfolges bei 
einigen von den Uebereinkünften mit Deutschland herausgekommen wäre, 
würden die Beziehungen beider Länder ergiebiger an gegenseitiger Achtung 
gewesen sein. Großbritannien hätte an die Vereinigten Staaten nicht durch 
die Vermittlung Deutschlands herantreten dürfen. Er könne sich ganz gut 
vorstellen, daß, als der deutsche Botschafter sich an die englische Regierung 
wandte, der Minister des Aeußern den Wunsch nach einem harmonischen 
Zusammenwirken ausdrückte und sagte, daß kein Grund vorhanden sei, 
weshalb nicht bei zukünftiger Gelegenheit ein Zusammenwirken stattfinden 
sollte. Aber gleichzeitig hätte er ihm sagen sollen, daß einer, der zu einer 
Nation gehöre, die im Punkte der nationalen Ehre so stolz und feinfühlig 
sei, auch sich vor Augen halten solle, daß Worte gesagt und geschrieben 
seien, die nicht in einem Moment ausgelöscht werden könnten, und daß es 
nicht im Interesse der guten Beziehungen liege, daß man bei dieser 
Gelegenheit zusammenwirke. Englands Gefühl sei beleidigt nicht nur durch 
Artikel und Karikaturen in der deutschen Presse, sondern auch durch Reden 
der verantwortlichen Staatsmänner. Die Feindseligkeit, die Erbitterung 
und die Eisrsicht Europas erzeugten eine ernstliche Gefahr für die Regierung; 
er hoffe, daß, nachdem man aus diesem schlecht beratenen Unternehmen 
herausgekommen sei, man eine lange Zeit verstreichen lassen solle, ehe man 
sich in eine ähnliche Angelegenheit mische. 
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