Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

Frankreich. (Januar 24.) 277 
reich friedliche, ja fast herzliche Beziehungen herzustellen? Warum hat 
Italien, das den Dreibundsvertrag erneuerte, erklären können, daß dieser 
Vertrag nichts Kriegerisches in sich fasse? — Es gibt auch eine französisch- 
russische Allianz. Prinzipiell habe ich nichts gegen dieses Bündnis. Wir 
haben nicht das Recht, uns durch die Unterschiede beeinflussen zu lassen, 
welche in politischer und sozialer Hinsicht zwischen diesen beiden Ländern 
bestehen. Es handelt sich auch hier um ein Defensivbündnis, das dazu 
bestimmt ist, den Frieden in Europa zu wahren. Man darf aber auch 
den Wert dieses Bündnisses nicht überschätzen. Frankreich hat in den 
Jahren 1870—1892 auch ohne fremden Beistand seine Macht wiederher- 
stellen, seinen Rang bewahren und ein Kolonialreich schaffen können. Das 
Bündnis mit Rußland, das uns retten sollte, ist erst gekommen, als man 
sah, daß wir fähig waren, uns selbst zu retten. (Lebhafter Beifall links 
und in der Mitte. — Abg. Millevoye ruft dazwischen: Sie richten zur Zeit 
im Lande das größte Unheil an!) Es gibt nur eines, das dem Lande 
Unheil zufügen kann, das ist, wenn man Mißverständnisse fortbestehen läßt, 
aus denen Ueberraschungen und Leiden entstehen. (Beifall links.) Die 
Nationalisten wollten sich der russischen Allianz bedienen, als einer Waffe 
im inneren politischen Leben, das aber können und werden wir nicht &, 
geben. Die französische Revolution wollte den allgemeinen Frieden. Sie 
verabscheute den Krieg. Heute ist der allgemeine Frieden in Europa schon 
geschlossen. Ich habe volles Vertrauen zu seiner Dauer. Allerdings be- 
findet sich Frankreich in einer schmerzlichen Lage. Es hat eine Verstüm- 
melung erlitten, welche eine Rechtsverletzung war. (Beifall.) Wir werden 
den Triumph der Gewalt über das Recht niemals akzeptieren können 
(Beifall), aber die Heilung und die endgültige Lösung mußz von dem Frie- 
den gebracht werden, der sich auf die gleichzeitige allgemeine Abrüstung 
stützt. Auf diese Weise werden die Elsaß-Lothringer ihr Vaterland wieder- 
finden. (Beifall links.) In den früheren Kriegen, selbst in dem von 1870, 
hat Frankreich genügende Beispiele von Heroismus geliefert und hat uns 
ein hinreichend großes Erbteil an Ruhm hinterlassen, so daß wir ohne 
Bedauern das verabscheute Buch des Krieges schließen können. 
Dep. Ribot (antiminist. Progressist) fragt Jaurès, weshalb er ge- 
sagt habe, daß der Dreibund niemals einen offensiven Zweck gehabt habe. 
— Jaures ruft: Weil es wahr ist! — Ribot entgegnet: Müssen denn 
aber gerade wir das sagen? Sie spielen sich als den Repräsentanten der 
Absichten des Deutschen Reiches auf! — Es genüge nicht, zu sagen, daß 
Elsaß-Lothringen das Recht für sich habe, und daß man der Zukunft alles 
vorbehalten müsse. Internationale Schwierigkeiten regelten sich nicht mit 
Worten. Uebrigens sei es besser, diese heikle Frage nicht zu berühren. 
Man solle sich lieber mit den Umtrieben befassen, durch welche die Armee 
desorganisiert werde. Man solle die abscheulichen Pamphlets gegen die 
Armee desavouieren. Der Kriegsminister müsse seine Sprache in Einklang 
setzen mit der Wirklichkeit. 
Kriegsminister André: Er suche stets Gehorsam gegen das Gesetz 
und die Regierung und die Achtung vor der Manneszucht aufrecht zu er- 
halten, aber er bedaure, in der Armee katholische Klubs zu finden. Er 
werde sich mit dem Ministerpräsidenten ins Einvernehmen setzen, um sie 
aufzulösen. Auch Pamphlete gegen die Armee dulde er nicht. 
Die Kammer erteilt der Regierung mit 453 gegen 57 Stimmen ein 
Vertrauensvotum. 
24. Januar. Der Senat genehmigt das Gesetz über die Anderung 
des Zuckerregimes und die Brüsseler Zuckerkonvention (vgl. 1902). 
 
	        
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