Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

Nas Veische Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 29.) 29 
ins Land hinausgehen lassen kann. (Beifall.) Es hat mich in meinem 
konservativen Herzen wirklich tief geschmerzt, daß so etwas von unserer 
ländlichen Bevölkerung ausgesprochen werden kann. (Lebhafter Beifall.) 
Ich muß ganz offen sagen: ich habe das wärmste Herz für die Landwirt- 
schaft, ich habe mit meinem ganzen Sein unausgesetzt für die Landwirt- 
schaft gekämpft, aber mit dicher Rede ist das Tuch absolut mit mir zer- 
schnitten. (Bravol) M. H., mit dem Bund der Landwirte, der sich so 
vergessen kann, daß er solche Worte seinen Vertretern in den Mund legt, 
ist keines Rechtens von meiner Seite mehr. Diese Rede des Abg. Dr. Hahn 
konnte wohl an einer anderen Stelle gehalten werden, aber hier war keine 
Veranlassung dazu. (Sehr wahrl) Daß die Parteien sich auseinander- 
setzen über politische Auffassungen, das kommt in unserem politischen Leben 
vor; bisher ist es auch dabei geblieben; erst am Schluß der heutigen 
Sitzung — ich verstehe den Grund nicht, warum diese Provokation er- 
folgte — erscheint der dritte Vorsitzende des Bundes und hält eine Rede, 
die nun und nimmermehr in unsern ländlichen Kreisen, sicher aber auch 
nicht in konservativen Kreisen Widerhall finden kann. (Beifall.) Ich ver- 
stehe es, wenn solch ein Redner vor einer Versammlung, die gern seinen 
beredten Worten lauscht, Ausführungen macht, die leicht über die Situation 
hinwegtäuschen; hier aber, vor diesem Hause wundert es mich sehr, daß 
der Herr Vorredner in solcher Weise den Zolltarif und die Handelsverträge 
vorführt. Meine Herren! Der Zolltarif ist doch nur die Grundlage für 
die weiteren Vertragsverhandlungen. Der Vorredner spricht aber einmal 
vom Zolltarif und dann von den Vertragsperhandlungen und wirft so 
beides durcheinander. Daß man mit dem Zolltarif nicht zufrieden sein 
kann, verstehe ich. Aber daß jetzt bereits der Stab über die Handels- 
verträge gebrochen wird, von denen wir zunächst gar nicht wissen, wie sie 
sich gestalten werden, von denen, wie ich als Mitglied der Regierung ver- 
sichern kann, selbst der Reichskanzler nicht sagen kann, wie ate ausfallen 
werden, ist mir unverständlich. Es ist einfach unbegreiflich, wie man in 
diesem Moment Verträge verurteilen kann, deren Schicksal noch der Zukunft 
überlassen bleiben muß. Das ist lediglich der Agitation wegen geschehen. 
Der Vorredner hat die Frage der Meistbegünstigung und alles andere 
gleichzeitig mit hineingebracht. Ich kann diese Rede nur aufrichtig be- 
dauern; ich hatte noch geglaubt, daß innerhalb des Bundes der Landwirte 
diejenigen Elemente die Oberhand behalten würden, die in ihrer gemein- 
samen Vertretung der Interessen das allgemeine Heil unserer Landwirt- 
schaft sehen. Durch die provokatorische Rede ist ein für allemal diese 
Ueberzeugung für meine Person geendet. Ich möchte nur noch einmal 
wiederholen, was der Reichskanzler hier unter dem Beifall der Mehrheit 
dieses hohen Hauses ausgesprochen hat; die Worte gingen dahin: „Die 
königliche Staatsregierung ist bei der Aufstellung des Tarifs bestrebt ge- 
wesen, den Interessen der Landwirtschaft soweit als irgend möglich ent- 
gegenzukommen, und sie ist ohne Ausnahme davon überzeugt, daß der 
Tarif erhebliche Vorteile bietet, und wird bei den bevorstehenden Handels- 
vertragsverhandlungen nicht bloß mit Worten, sondern auch mit der Tat 
bestrebt sein, die Interessen der Landwirtschaft gewissenhaft wahrzunehmen.“ 
— Das ist auch der Standpunkt, auf dem ich stehe, und den ich jederzeit 
bereit bin, mit meiner ganzen Person zu vertreten. (Lebhafter, lang an- 
haltender Beifall.) 
29. Januar. Der Reichstag wählt mit 195 von 285 ab- 
gegebenen Stimmen den Grafen Ballestrem wieder zum Präfidenten. 
Graf Ballestrem nimmt die Wahl an. 
 
	        
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