Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

402 Aebersiht der politischen Entwichelung des Jahres 1903. 
Die dritte große ostafiatische Macht, England, sucht zwischen 
den beiden Gegnern zu vermitteln. In London ist der Krieg offen- 
bar unerwünscht, weil der Sieger — mag es nun Rußland oder 
Japan sein — eine übermächtige Stellung in Ostafien erhalten 
und so dem englischen Einfluß verderblich werden würde. Das 
Bündnis mit Japan verpflichtet England nur zur Waffenhilfe, 
wenn Rußland einen Bundesgenossen findet; es ist daher Englands 
Bestreben, Frankreich von einer Einmischung in den ostafiatischen 
Streit abzuhalten, und dies Vorhaben scheint von Erfolg gekrönt 
zu sein, da in mehreren offiziellen Kundgebungen beide Regierungen 
ihre vortrefflichen Beziehungen zueinander betont haben. Die gefähr- 
liche Lage am Balkan mag ebenfalls dazu beitragen, die englische 
Regierung friedlich zu stimmen. Bei einem gleichzeitigen Brande 
im nahen und fernen Orient wäre die englische Macht kaum im 
stande, an beiden Stellen einen entscheidenden Einfluß auszuüben. — 
Einstweilen hat aber die englische Regierung die ruffisch-japanische 
Verwicklung zu einem Vorstoß in Zentralasien benutzt: sie hat von 
Indien aus eine Expedition nach Tibet entsandt, um das geistliche 
Haupt des Buddhismus, den Dalai Lama, an dessen Hofe die 
Russen in den letzten Jahren eine starke Stellung gewonnen hatten, 
unter englischen Einfluß zu bringen. Wenn die Expedition ge- 
lingt, kann sie bei der moralischen Bedeutung des Lama zu einer 
erheblichen Verbesserung der englischen Machtstellung in Asien 
führen. 
Die letzte internationale Frage endlich, die marokkanische, 
hat zwar nicht zu weiteren Verwicklungen geführt, aber ihre Lösung 
noch nicht gefunden. Es ist dem Sultan nicht gelungen, die Re- 
bellen niederzuwerfen; als er durch die Schwierigkeiten der Jahres- 
zeit gezwungen wurde, den Feldzug abzubrechen und nach Fez heim- 
zukehren, behauptete sich der Prätendent noch in Taza. Die Stel- 
lung des Sultans hat sich durch die Rebellion im allgemeinen ver- 
schlechtert; unter seinem Volke macht sich immer stärker eine fremden- 
feindliche Stimmung geltend, und er ist gezwungen, wegen finan- 
zieller Verpflichtungen gegen europäische Kapitalisten, auf die Euro- 
päer Rücksicht zu nehmen. — Die Mächte haben der Entwicklung 
abwartend zugeschaut. — Frankreich, die am nächsten interessierte
	        
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