406 Nebersicht der yelitischen Entwickelnus des Jahres 1903.
verschiedenen Seiten gemacht wurde, ein allgemeines Zusammengehen
der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie bei den Stich-
wahlen herbeizuführen, ist nicht überall gelungen, aber eine direkte
Unterstützung von Angehörigen bürgerlicher Parteien außer den
erwähnten „Mitläufern“ wird die Sozialdemokratie bei den Stich-
wahlen wohl nur in geringem Maße erhalten haben. Die Ursache
ist teils die Abneigung der besitzenden Stände, die Partei des
Proletariats zu verstärken, teils der Widerwille gegen den Terroris=
mus, mit dem die Sozialdemokratie den Wahlkampf grade gegen
die Parteien, von denen sie am ersten hätte Hilfe erwarten dürfen,
gegen die freifinnige Volkspartei und freifinnige Vereinigung, ge-
führt hatte.
Wie natürlich beherrschte der sozialdemokratische Wahlerfolg
die öffentliche Diskussion, und sogleich traten wieder die beiden An-
schauungen einander gegenüber, die sich innerhalb der bürgerlichen
Parteien seit etwa einem Jahrzehnt bekämpfen. Die eine will die
Sozialdemokratie mit Gewalt, durch ein Ausnahmegesetz, oder durch
eine allgemeine Umsturzvorlage irgendwelcher Art oder durch Ande-
rung des Reichstagswahlrechts bekämpfen, weil sie in der zügellosen
Agitation und der freien Organisation die wahren Ursachen ihres
Emporkommens sfieht. Die andere erklärt solche Mittel für verderblich,
weil sie der Sozialdemokratie nur neuen Agitationsstoff liefern und
die Masse ganz und gar ins revolutionäre Lager treiben würde.
Sie will vielmehr die Arbeiterschaft als völlig gleichberechtigte
Partei anerkennen und der Sozialdemokratie durch Abhilfe von
berechtigten Beschwerden — durch Verbesserung der Schutzvorschriften
und des Versicherungswesens, durch Anerkennung der Arbeiterorgani-
sationen, durch mildere Bestrafung der Arbeitervergehen als bis-
her, durch Verhütung der Soldatenmißhandlungen u. dgl. — den
Agitationsstoff entziehen und so die Masse zur nationalen Gefin-
nung zurückführen. Wenn die erste Partei mit der unverkennbaren
Brutalität des sozialdemokratischen Wahlkampfes die Notwendig-
keit von Repressivmaßregeln begründet, so hält die Gegenpartei
diesem Argument das Beispiel Sachsens entgegen, wo polizeiliche
Vorschriften und Wahlrechtsbeschränkungen gegen die Sozialdemo-=
kratie stärker als im übrigen Deutschland angewendet worden find,