Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zwanzigster Jahrgang. 1904. (45)

 
52 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 16.) 
würdigkeit der Auslosung, die für mich keine Liebenswürdigkeit ist, jene 
Aufgabe zugefallen. Ich glaube aber dem Zentrum einen Gefallen zu tun, 
daß ich den Reigen eröffne, denn für Sie wird es in der jetzigen politi- 
schen Lage nicht angenehm sein, Ihre Klagen vorzubringen, da zu diesen 
kein übermäßiger Grund vorliegt. Darüber freue auch ich mich, denn 
meine politischen Freunde und ich meinen, daß jeder Kirche im Vaterlande 
die Freiheit zu gestatten ist, die sie zur Ausübung ihres religiösen Lebens 
bedarf. Selbstverständlich muß bei der Beratung dieses Ministeriums das 
Verhältnis der Regierung zu den Konfessionen besprochen werden. Es ist 
eine der denkbar schwierigsten Aufgaben für die Staatsregierung, eine allen 
Konfessionen genügende und sie zufriedenstellende Kirchenpolitik zu treiben. 
Das ist so schwer, wie die Quadratur des Zirkels zu finden. Das Ver- 
hältnis des Staates zur Kirche ist ein Problem, das durch die Jahr- 
hunderte geht; es ist das Problem des Staates zur „Kirche“ schlechthin, 
zur katholischen Kirche. An Reibungen mancherlei Art kann es da nicht 
fehlen, das bringt die Eigenart und Organisation dieser Kirche mit sich. 
Der moderne Staat wurzelt seinem Wesen und seiner Entwicklung nach 
in der großen Bewegung des 16. Jahrhunderts, in der Weltanschauung 
des Protestantismus. Ich spreche das nicht in dem Sinne aus, daß dieser 
Staat eine konfessionelle Stellung einnähme. Wenn diese Eigenart des 
modernen Staats ihn in eine gewisse Spannung zur katholischen Kirche 
bringt, so liegt in dieser Eigenart das große Moment, daß dieser Staat 
auch der katholischen Kirche freies Licht und freie Luft gewähren kann. 
Darum ist unter dem Hohenzollernaar auch allezeit gut leben gewesen für 
die katholische Kirche. Bei dieser Spannung ist es selbstverständlich, daß 
die Regierung eines modernen Staats auf die Maßnahmen der katholischen 
Kirche Rücksicht nimmt. Sie hat die Kraft und Fähigkeit, dieser Kirche 
entgegenzukommen. Und wenn diese Kirche durch eine große Partei im 
preußischen Landtage und im Reichstage vertreten ist, auf deren Zustim- 
mung die Regierung bei ihren Maßnahmen rechnen muß, so muß die Re- 
gierung dieser Partei gegenüber alles vermeiden, was sie verletzen könnte. 
Es handelt sich um das Verhältnis zweier organisierter Mächte. Selbst- 
verständlich werden Liebenswürdigkeiten hin und her ausgetauscht. Es wäre 
eine falsche Empfindlichkeit, sich darüber aufzuregen. Es ist begreiflich, 
wenn die Regierung bei der Zerrissenheit der politischen Parteien möglichst 
sacht auftritt, um die Schwierigkeiten nicht zu vermehren. Darum müssen 
wir anerkennen, daß es aus diesen Gründen verständlich ist, wenn in der 
Kirchenpolitik der Gegenwart sich ein großes Entgegenkommen der Staats- 
regierung der katholischen Kirche und den Wünschen des Zentrums gegen- 
über zeigt. Aber um des staatlichen Wohles und um der Wohlfahrt der 
unteilbaren Nation willen gibt es Grenzen, wo das Entgegenkommen der 
Staatsregierung aufhören muß. Das ist meiner politischen Freunde An- 
schauung, daß wir in diesem Augenblick an dieser Grenze angekommen 
sind, ja darüber vielleicht schon hinübergeschritten sind. (Oho! im Zentrum.) 
Bei allem Entgegenkommen gegen die Stimmungen und Empfindungen der 
Katholiken, ist eine Grenze für das Entgegenkommen der Regierung ge- 
zogen in die von dieser zu fordernden Rücksicht auch auf die Stimmungen 
und Empfindungen des andern Teiles des Volkes. (Sehr richtig! links.) 
Dieses Entgegenkommen einer bestimmten Partei gegenüber darf sich nicht 
bis dahin ausdehnen, wo gemeinsame kulturelle Güter und Besitztümer 
preisgegeben werden. Nach diesen beiden Seiten hin sind wir an die 
Grenze gekommen, haben wir die Grenze überschritten. Von diesem Ge- 
sichtspunkt aus will ich die Aufhebung des § 2 des Jesuitengesetzes be- 
sprechen. (Ahal) Sie werden mir doch gestatten, ohne Scheu darüber zu 
 
	        
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