Das Venische Reich und seine einjelnen Glieder. (Dezember 6./15.) 139
sehen, daß man zu dem leider unterbrochenen wechselseitigen Verständnis
zweier großer Völker von gleichartiger Kultur zurückkehren will. Ich be-
absichtige also nicht, Ihnen ein Exposé über die auswärtige Lage zu geben,
da ich mir davon in diesem Moment keinen Vorteil für das Land ver-
spreche. Ich bin aber durchaus bereit, auf einzelne konkrete Fragen, welche
der Vorredner angeschnitten hat, meine Meinung zu äußern. Der Herr
Vorredner hat das Verhältnis zwischen Deutschland und Italien berührt.
Offenbar im Hinblick auf die zwischen Italien und Frankreich eingetretene
Annäherung hat er der Befürchtung Ausdruck gegeben, daß zwischen
Deutschland und Italien nicht mehr alles beim alten sei. Daß eine Ab-
wendung Italiens vom Dreibunde nicht zu erwarten ist, habe ich vor der
inzwischen erfolgten Erneuerung des Dreibundes gesagt. Italien hat sich
dem Dreibunde seinerzeit nicht in unklarer Sentimentalität angeschlossen,
sondern weil es dabei seine Rechnung findet. Die Gründe, welche seiner-
zeit die großen mitteleuropäischen Reiche zusammengeführt haben, bestehen
auch heute noch, und es ist nichts geschehen, was sie beseitigen könnte. Wie
zwischen Deutschland und Oesterreich -Ungarn, so besteht auch zwischen
Deutschland und Italien nicht der leiseste Interessengegensatz. Zwischen
Oesterreich-Ungarn und Italien haben Mißverständnisse und Verstimmungen
bestanden, aber bei gegenseitigem guten Willen und gegenseitigem Ent-
gegenkommen ist es noch immer gelungen, diese Mißverständnisse zu be-
seitigen. Das Bindeglied zwischen Oesterreich-Ungarn und Italien bildet
Deutschland, das für jedes dieser beiden Reiche der natürlichste Bundes-
genosse ist. Die gegenwärtige italienische Regierung sieht in dem Drei-
bunde die Basis ihrer auswärtigen Politik, aber auch die große Mehrheit
des italienischen Volkes ist zu patriotisch und klug, um nicht zu wissen,
daß ein vom Dreibund losgelöstes Italien noch stärker sein müßte, als
Italien ist, wenn es nicht für die Unabhängigkeit seiner Politik Gefahr
laufen will, die jeder Italiener aus der Geschichte seines Landes kennt.
Wenn Italien jetzt von mehr als einer Seite umworben wird, so ist wohl
nicht zu bestreiten, daß seine Freundschaft gerade durch seine Zugehörigkeit
zum Dreibunde und durch die Sicherheit, die diese Zugehörigkeit gewährt,
an Wert gewonnen hat. Der Dreibund will eben in Europa den Frieden
und den status duo aufrechterhalten, das war sein Ausgangspunkt, das
ist sein Endziel. Deshalb haben wir den Dreibund abgeschlossen, deshalb
haben wir den Dreibund erneuert, deshalb halten wir unverbrüchlich am
Dreibund fest. Aber Deutschland muß so stark sein, um im Notfalle sich
auch ohne Bundesgenossen behaupten zu können, es muß stark genug sein,
um im schlimmsten Falle auch seine Stellung allein verteidigen zu können.
Ich sage: Im schlimmsten Falle. Dieser Fall ist nicht eingetreten, wir
hoffen, daß dieser Fall nicht eintreten wird, aber diesen Fall dürfen wir
niemals aus den Augen verlieren. Wir müssen stets eingedenk sein der
Worte, die in seiner großen unsterblichen Rede am 6. Februar 1888 Fürst
Bismarck mit bezug auf die damals schon bestehenden Bündnisverträge
sagte: „Wir müssen „unabhängig von der augenblicklichen Lage“ so stark
sein, daß wir mit dem Selbstgefühl einer großen Nation, die unter Um-
ständen stark genug ist, ihre Geschicke in die eigene Hand zu nehmen, auch
gegen jede Koalition, jeder Eventualität entgegensehen können.“ Der Vor-
redner hat auf Verhältnisse und Vorgänge in Ostasien hingewiesen. Daß
unsere Haltung vor und nach dem ostasiatischen Kriege eine korrekte und
loyale gewesen ist, ist von Japan durchaus anerkannt worden. Unsere
Beziehungen zu Japan sind gute und freundliche. Ich weiß, daß sich
Japan an abgeschlossene Verträge bindet. Deshalb glaube ich nicht, daß
Japan vertragsmäßige und wohlbegründete Rechte sollte verletzen wollen,